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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Jahresendfiguren

Ja, es gab sie, die in Stan­ni­ol­pa­pier ein­ge­wickel­ten Niko­läu­se, Kugeln und Tan­nen­zap­fen in mei­ner Kind­heit. Ich kann mich aller­dings nicht erin­nern, die Bezeich­nung »Hohl­kör­per« irgend­wo gele­sen zu haben. Für mich waren das ein­fach Weih­nachts­män­ner und Niko­laus­fi­gu­ren aus Scho­ko­la­de. Zuge­ge­ben war der Schmelz der Scho­ko­la­de nicht so zart wie der aus dem Westen, was zähl­te, waren die Weih­nachts­stim­mung und die Vor­freu­de. In der Schu­le bastel­ten wir Schnee­flocken aus gefal­te­tem But­ter­brot­pa­pier, die aus­ein­an­der­ge­zo­gen schö­ne Muster offen­bar­ten, mit denen die Fen­ster der Klas­sen­räu­me geschmückt wur­den. Dort muss­te Weih­nach­ten gänz­lich ohne christ­li­che Moti­ve aus­kom­men. Im Musik­un­ter­richt san­gen wir »Mor­gen Kin­der, wird’s was geben«, »Lei­se rie­selt der Schnee« und »So viel Heim­lich­keit in der Weihnachtszeit«.

Im Kunst­ge­wer­be­ge­schäft von Lothar Bock, dem Geschäft für Schö­nes, Teu­res und Sel­te­nes, gab es Hand­werks­kunst aus dem Erz­ge­bir­ge und Lauschaer Glas­kunst. Ein­mal bekam ich zu Weih­nach­ten ein klei­nes Orche­ster mit Engeln, die eine Posau­ne, eine Flö­te, eine klei­ne Trom­pe­te in den kuge­li­gen Hän­den hiel­ten, mit zar­ten gold­be­mal­ten Flü­geln am Rücken. Ein Engel hielt sogar einen win­zi­gen Tri­an­gel. Ab Okto­ber wur­de mei­ne Mut­ter meist sehr auf­ge­regt, denn es hieß, Geschen­ke für die Tan­te und die Schwe­ster im Westen zu kau­fen und zu schicken. Natür­lich woll­te sie nur das Beste im Gegen­zug für die zart­schmel­zen­de Scho­ko­la­de, den Boh­nen­kaf­fee, die getrock­ne­ten Fei­gen und die gute Sei­fe, die Tan­te Lene jedes Jahr im Advent an uns schick­te. Das Päck­chen war klein und schwer, nicht ein Haar hät­te noch in irgend­ei­ne Rit­ze gepasst. Beim »Bock« gab es schö­ne Tisch­wä­sche und ab und an auch Erz­ge­bir­ger Schnitz­kunst. Dabei muss betont wer­den, dass das mei­ste ohne­hin in den Westen expor­tiert wur­de und die Tan­te Lene in Hei­del­berg ver­mut­lich mehr davon sah als wir. Wie beschwer­lich die­se Jagd war, kann sich heu­te im Kon­sum­rausch des Cyber-Mon­day und Black-Fri­day kaum jemand vor­stel­len. Mei­ner Mut­ter ging es auch dar­um, ihr Gesicht zu wah­ren und einen gewis­sen Stil und Geschmack zu demon­strie­ren. Mei­ne Eltern waren Arbei­ter, die Musik lieb­ten und aus Polen Schall­plat­ten von Cho­pin, Hän­del und Tschai­kow­sky mit­brach­ten und aus Ungarn die Plat­ten der Beatles.

Doch das Mate­ri­el­le war nicht alles. Ich bin in der thü­rin­gi­schen Stadt Saal­feld an der Saa­le auf­ge­wach­sen. Nach dem Mau­er­fall nann­te man die Regi­on das grü­ne Herz Deutsch­lands. Die Stadt mit der dritt­größ­ten Hal­len­kir­che Thü­rin­gens (St. Johan­nis) und sei­ner gro­ßen Chor­tra­di­ti­on, mit einer damals beacht­li­chen christ­li­chen Gemein­de sowie einer viel­fäl­ti­gen Kul­tur­land­schaft. Ich erin­ne­re mich an Christ­ves­pern in der Ger­tru­dis­kir­che zu Graba, einem ein­ge­mein­de­ten Dorf. St. Ger­tru­dis war ein Klein­od mit hel­len Holz­bän­ken, einem berühm­ten Schnitz­al­tar und wun­der­schö­ner Male­rei, jedoch damals ohne Hei­zung. Im Win­ter ging beim Sin­gen die Atem­luft den Tönen sicht­bar vor­aus. Als Kind durf­te ich beim Krip­pen­spiel an Hei­lig­abend mit­ma­chen. Vie­le Male war ich eine der Engel. In einem krat­zi­gen hand­ge­strick­ten Schaf­woll­pull­over, dar­über ein wei­ßes Bett­la­ken als Engels­ge­wand, hielt ich eine Ker­ze in der Hand, um die ein brei­ter Papp­rand als Tropf­schutz gesteckt war. Die­ses Detail fällt mir ein, weil wir ab und zu etwas hei­ßes Wachs der Ker­ze über den Rand lau­fen lie­ßen, um unse­re kal­ten Hän­de zu wär­men. Wir Kin­der waren auf­ge­regt, wäh­rend wir im Kirch­hof auf unse­ren Ein­satz war­te­ten und end­lich durch die voll­be­setz­ten Rei­hen in den Altar­raum schrit­ten. »Fürch­tet euch nicht! Sie­he, ich ver­kün­di­ge euch gro­ße Freu­de, die allem Volk wider­fah­ren wird« (Lukas 2. 10). Den Begriff »Jah­res­end­fi­gur mit Flü­gel« kann­te ich nicht, dar­an wür­de ich mich erin­nern. Irgend­wann sorg­te die­ses DDR-Voka­bu­lar für all­ge­mei­ne Belu­sti­gung, und zwar hüben wie drü­ben. Da befand sich unser Land bereits in der Post-DDR-Phase.

Jah­re spä­ter ver­brach­te ich mit mei­nem Mann unser erstes gemein­sa­mes Weih­nach­ten in Saal­feld. An Hei­lig­abend gin­gen wir in mei­ne ehe­ma­li­ge Kir­che St. Ger­tru­dis. Oben auf der Empo­re saßen wir auf beheiz­ten war­men Bän­ken, lug­ten nach unten in den Chor- und Altar­raum, an der Orgel brumm­te lei­se das Geblä­se, und der Grabaer Posau­nen­chor stand auf der Empo­re bereit, um die tra­di­tio­nel­len Weih­nachts­lie­der schmet­ternd zu unter­stüt­zen. In jenem Jahr 2007 sag­te Maria mit leicht ost­thü­rin­gi­schem Dia­lekt: »Josef, isch kann nisch mehr!« Und er ant­wor­te­te: »Maria, isch sehe schonn die Lisch­ter von Bed­le­häm!« In mei­ner Zeit haben wir uns sehr an den luther­schen Bibel­text gehalten.

Die Zeit und der jewei­li­ge poli­ti­sche Kos­mos haben ihre eige­nen Begrif­fe und hin­ter­las­sen einen Fuß­ab­druck in ihrer Spra­che. Dabei den­ke ich an Vic­tor Klem­pe­rer und sein Notiz­buch LTI. Die­ses wid­me­te er an Weih­nach­ten 1946 sei­ner Frau Eva. Im Osten war der »Werk­tä­ti­ge der sozia­li­sti­schen Arbeit« ein Aus­druck sei­ner Zeit. Heu­te fügen sich Unwort und Jugend­wort des Jah­res in den neue­sten Duden ein und ande­re unan­ge­mes­se­ne aber salon­fä­hig gewor­de­ne Wor­te in unse­re Gesell­schaft. Hät­te ich einen Wunsch in die­sem Jahr, dann wäre es: »Frie­den auf Erden und den Men­schen ein Wohl­ge­fal­len« (Lukas 2. 14).