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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Menu de Noël

CALVADOS – Der Apfel­schnaps wird in der Bar am Bahn­hof in Caen, einer Stadt im Zen­trum der Nor­man­die, schon früh­mor­gens in den schwar­zen Kaf­fee oder gleich so gekippt. Die einen zele­brie­ren den »Café Cal­va« zum Abschluss ihrer Schicht, ehe sie nach Hau­se gehen, die ande­ren neh­men ihn als Tages­öff­ner zu sich. An kal­ten und ver­reg­ne­ten Tagen bestel­len sie ste­hend am Zinc ihren Kaf­fee eili­ger, und der Bar­mann, der den Cal­va­dos gleich neben sich ste­hen hat, blickt zur Fla­sche und zum Gast, der nickt und war­tet den Moment des Ein­schen­kens unge­dul­dig ab, bis er die Mischung zum Mund füh­ren kann, um das mor­gend­li­che Ritu­al abzu­schlie­ßen, ehe es hin­aus in den Tag geht. Die­se Sze­ne­rie erin­nert mich an eine Beob­ach­tung Wal­ter Ben­ja­mins vor fast ein­hun­dert Jah­ren in einem Pari­ser Bahn­hof: »was nimmst du mit die­sem Kaf­fee nicht alles zu dir: den gan­zen Mor­gen, den Mor­gen von die­sem Tag und manch­mal auch den ver­lo­re­nen des Lebens.«

TROU NORMAND – Jean­ne, die Mut­ter mei­nes Freun­des Loïc, besorgt den Cal­va­dos für den fami­liä­ren Gebrauch auf dem Wochen­markt. Es gibt da einen spe­zi­el­len Gemü­se­händ­ler, der bie­tet sei­ne Ware auf einem Hand­wa­gen an, über den er eine brei­te Holz­plat­te legt. Nach­dem die Kar­tof­feln, die Zwie­beln, die Toma­ten in der Ein­kaufs­ta­sche ver­staut sind, zeigt der stum­me Blick der Kun­din auf den Wagen unter der Plat­te, und der Händ­ler ver­schiebt die­se ein wenig und holt eine Fla­sche dar­un­ter her­vor, die, bereits dis­kret in die Sei­ten einer Aus­ga­be der Libé­ra­ti­on gewickelt, eben­falls in der Tasche ver­schwin­det. »Es gibt kei­nen bes­se­ren Cal­va«, schwärmt Jean­ne, wenn sie ihn bei einem län­ge­ren Essen zwi­schen­durch aus der Küche holt, in der ande­ren Hand vier Schnaps­glä­ser. Stimmt, den­ken alle und glau­ben an das »Trou Nor­mand«, das Nor­man­ni­sche Loch, den Genuss des fran­zö­si­schen Apfel­brannt­weins, ein Pau­sen­fül­ler, der Platz schaf­fen soll für die Fort­set­zung des Essens.

INVITATION – Jean­ne und André haben mich zu sich ein­ge­la­den, zur tra­di­tio­nell gefei­er­ten Réveil­lon, und ich gehe mit Loïc zu sei­nen Eltern, die seit ein paar Jah­ren in einem Neu­bau­ge­biet woh­nen. Die Blaue Stun­de ist schon vor­über. All­zu viel weih­nacht­li­ches Dekor begeg­net uns nicht unter­wegs, hier und da ein paar Zwei­ge und Lich­ter in den Fen­stern. Bei den Eltern steht ein karg geschmück­ter, etwas besen­ar­ti­ger Baum mit elek­tri­schen Ker­zen. Über­haupt strahlt das Wohn- und Ess­zim­mer wenig anhei­meln­de Wär­me aus. Ein Tisch mit durch­sich­ti­ger Pla­stik­decke und vier Stüh­le fül­len den vor­de­ren und grö­ße­ren Teil des Rau­mes. Vor der einen geweiß­ten Wand steht eine halb­ho­he, dun­kel gebeiz­te Kom­mo­de mit Obst­tel­ler und dane­ben ein schma­ler Schrank, der im obe­ren Teil hin­ter zwei Glas­schei­ben etli­ches Geschirr ver­staut hält. Im hin­te­ren Teil des Zim­mers, vor der Tür, die zum Gar­ten führt, fällt im locke­ren Fal­ten­wurf eine boden­lan­ge Gar­di­ne, die über die gan­ze Wand reicht. Davor haben sie als ein­zig beque­mes Möbel einen Klapplie­ge­stuhl hin­ge­stellt, der im Som­mer im Gar­ten steht und mich an einen Film von Jaques Tati erin­nert, in dem er sich beim Auf­stel­len eines Lie­ge­stuhls völ­lig ver­hed­dert. An der Wand, vor dem der Ess­tisch steht, hängt als ein­zig wär­men­der Blick­fang ein groß­for­ma­ti­ges Ölbild, das Loïc im ersten Jahr sei­nes Stu­di­ums an der Éco­le des Beaux-Arts gemalt hat und das ihm heu­te pein­lich ist; aber zu Hau­se darf es hän­gen, zum Stolz der Eltern.

UND BEI EUCH? – Schon tags zuvor frag­te mich Loïc nach dem typi­schen Weih­nachts­es­sen in Deutsch­land, am Hei­li­gen Abend. »Ach, Kar­tof­fel­sa­lat mit Würst­chen, manch­mal auch selbst­ge­mach­ter Herings­sa­lat mit Rote Bee­te, nichts Beson­de­res«, wink­te ich ab, und füg­te hin­zu: »Das rich­ti­ge Weih­nachts­es­sen gibt es am 1. Weih­nachts­tag. Gän­se­bra­ten mit Rot­kohl und Kar­tof­feln, oder Forel­le Blau oder Mül­le­rin­nen Art.« Loïc schau­te, als hät­te er eine Krö­te ver­schluckt, und sonst? – »Naja, ’ne Sup­pe vor­weg und Nach­tisch«, schob ich nach, »es ist halt sehr nord­deutsch und evangelisch«.

SAMEDIE 24 DÉCEMBRE – Es hat bereits am Mor­gen ein wenig zu schnei­en begon­nen, und wir klop­fen im schma­len Haus­flur unse­re Jacken ab, schlüp­fen aus den nas­sen Schu­hen in die bereit­ste­hen­den Filz­pan­tof­feln. Jean­ne steht in der Küchen­tür. Rosig glän­zen­de Wan­gen. Sie schnippt mit zwei Fin­gern ein paar Haar­sträh­nen bei­sei­te und plau­dert gleich drauf­los: »Da wer­de ich heut mei­ne drei Män­ner beko­chen, benehmt Euch«, droht sie mit dem Fin­ger. »André, schenk den jun­gen Män­nern einen Pastis ein«, ruft sie zum Wohn­zim­mer hin­über und zwin­kert uns zu, »wir haben schon ein Gläs­chen genommen«.

André hat den Ape­ri­tif längst auf dem Tisch plat­ziert und einen Tel­ler mit Oli­ven und Holz­spieß­chen dazu. Er schenkt ein und ruft sei­ne Frau. Doch die wehrt aus der Küche ab: »Nein, dann bin ich nach­her gleich mala­de, trinkt, trinkt.« Der Tisch ist gedeckt, eine Fest­ta­fel! Und es duf­tet in allen Zim­mern nach Gewür­zen, Gebra­te­nem und Gekoch­tem. Wir ste­hen rum, André erklärt mir das gro­ße Bild sei­nes Soh­nes, der sich zu Jean­ne in die Küche ver­zieht und mit einem Tablett zurück­kehrt: »Coquilles Saint-Jac­ques avec Hari­cots de Mer«, flö­tet Loïc, spielt den Kell­ner und ordert: »Papa, der Wei­ße!« Und Papa ver­schwin­det und kehrt mit einer ent­kork­ten Fla­sche Mus­ca­det zurück. Auf­fäl­lig schweig­sam neh­men wir die­sen ersten Gang ein, Jakobs­mu­scheln mit Meer­spar­gel, nie zuvor habe ich etwas Ähn­li­ches geschmeckt. Ich ver­heim­li­che mein Ent­zücken nicht, und Jean­ne lächelt mit gesenk­tem Kopf in sich hin­ein, wäh­rend ihre Män­ner stolz auf die Köchin weisen.

Damit ist der Rei­gen der Vor­spei­sen erst eröff­net. Es folgt die in But­ter sau­tier­te Foie Gras, eine Deli­ka­tes­se, die im Deut­schen aller­dings weni­ger deli­kat klingt: Gän­se­stopf­le­ber. Wer sieht nicht die gequäl­ten, gestopf­ten Gän­se vor sich. Foie Gras klingt da für deut­sche Ohren weni­ger ver­däch­tig, und mit einer raf­fi­nier­ten Zwie­bel­kon­fi­tü­re und auf kräf­tig getoa­ste­tem Weiß­brot genos­sen, ist alle Gän­se­stop­fe­rei ver­ges­sen. Dazu wech­selt der Weiß­wein ins Liebliche.

Dann ent­steht eine län­ge­re Pau­se. Essen ist in Frank­reich eine Auf­füh­rung, unter­teilt in meh­re­re Akte, wohin­ge­gen man in Deutsch­land zumeist rasch durch ist. André wärmt die etwas zu kal­te, aber bereits geöff­ne­te Fla­sche Rot­wein zwi­schen sei­nen Bei­nen an. Sie ragt ein wenig obszön aus den Schen­keln her­vor und lugt gera­de eben über die Tisch­kan­te. Die Kom­men­tie­rung die­ses Anblicks lässt sich als süf­fi­san­tes Grin­sen auf allen Gesich­tern able­sen. Bald wird die Haupt­sa­che, der Trut­hahn oder die Pute, auf­ge­tra­gen wer­den, die Din­de aux Mar­rons, die die duft­ge­schwän­ger­te Luft schon seit unse­rer Ankunft domi­niert. Aber noch ist es nicht so weit. Jean­ne kommt immer wie­der von der Küche an den Tisch, schal­tet sich in die Gesprä­che ein und eilt wie­der an den Herd zurück, »mon Dieu, la sauce«!

Bei einem ihrer Gän­ge zwi­schen Küche und Ess­tisch bringt sie den Puten­hals mit, legt ihn auf ihren Tel­ler und geht wie­der zurück, weil irgend­was sonst anbrennt. Sie liebt es, das Fleisch des Hal­ses allein und vor­ab zu ver­spei­sen. André nimmt rasch den Puten­hals und ver­steckt ihn unterm Tisch. Als sie zurück­kommt, schaut sie irri­tiert auf den Tel­ler, schüt­telt den Kopf, geht wie­der in die Küche, redet mit sich, klap­pert mit Geschirr, kommt an den Tisch: »Habe ich den Puten­hals schon geges­sen? Ich weiß es nicht mehr«, sieht sie uns rat­los-fra­gend an. Loïc kann sich vor Lachen nicht hal­ten und ver­rät damit natür­lich André, der den Hals mit unschul­di­gem Augen­auf­schlag unter dem Tisch her­vor­holt. »Oh, Ker­le«, gespielt-ver­är­gert, aber beglückt, macht sie sich über den Hals des Vogels her. Sie belohnt sich für ihre Arbeit und stei­gert unse­re Erwar­tung auf den Haupt­gang des Menu de Noël.

Sie­ben Sor­ten Fleisch lie­gen als­bald – von Maro­nen­fül­lung und Gemü­se­va­ria­tio­nen umge­ben – tran­chiert auf einem Prä­sen­tier­tel­ler vor uns. Da zeigt sich hel­les, trocken-zar­tes Brust­fleisch, umschlos­sen von saf­ti­gen, fein zer­leg­ten Unter- und Ober­keu­len, ein dunk­les Fleisch, und die über­ra­schend wür­zi­gen, weiß­flei­schi­gen Flü­gel schlie­ßen das noch damp­fen­de Gemäl­de zum Plat­ten­rand ab. André erlöst die Rot­wein­fla­sche aus der Umklam­me­rung sei­ner Schen­kel und schenkt uns ein.

Wer nach die­sem Gip­fel ver­stoh­len auf die Arm­band­uhr linst, soll­te des Tisches, hin­aus in den nass­kal­ten Abend der Nor­man­die, ver­wie­sen wer­den. Nein, es ist die rich­ti­ge Zeit, den auf dem Markt erwor­be­nen, schwarz­ge­brann­ten Cal­va­dos aus­zu­schen­ken, um etwas Platz zu schaf­fen für die fol­gen­den Gau­men­freu­den. Der Wochen­markt in Caen ist der Vor­platz zum Schla­raf­fen­land des Spei­sens. Nir­gend­wo ist das Fleisch, sind die Fische, das Gemü­se fri­scher und der Cal­va­dos bes­ser. »So«, ruft Loïc, »jetzt ein Trou Nor­mand«, erhebt sich, eilt an die Anrich­te, zau­bert die Fla­sche her­vor, ent­korkt sie, reibt mit dem Kor­ken an der Fla­sche, bis es froh­lockend quietscht, und schenkt allen in die bereit­ste­hen­den Gläs­chen ein. Es ist ein Augen­blick des Inne­hal­tens, zu spü­ren, wie der leicht gold­far­be­ne Trop­fen sei­nen Weg durch die Keh­le in die Tie­fen des Lei­bes fin­det. Gleich wird Jean­ne wie­der in der Küche han­tie­ren und wir die geplün­der­te Plat­te, die Sau­cie­ren, Schüs­sel­chen, Tel­ler, Besteck und Glä­ser abdecken, hin­aus­tra­gen und den Tisch neu eindecken.

Grü­ner Salat mit einer Essig-Öl-Senf-Vin­ai­gret­te lei­tet den Über­gang zum Käse ein, der in den Varia­tio­nen der Nor­man­die auf einem lan­gen Holz­brett auf den Tisch kommt, ein Korb mit auf­ge­schnit­te­ner Baguette, und wahl­wei­se Rot- oder Weiß­wein, bei Letz­te­rem füllt ein geschmei­di­ger Chab­lis die Gläser.

DESSERTS – Wer jetzt schon pum­pel­satt ist, ver­fügt nicht über die hier not­wen­di­ge Kon­di­ti­on, hat zuvor zu hef­tig zuge­langt oder lässt sich täu­schen. Nach einer lau­ni­gen Pau­se, Ziga­ret­te im Gar­ten, einem Kaf­fee oder Likör, geht es wei­ter auf der Stu­fen­lei­ter der süßen Abschie­de, die die Weih­nachts­spei­se­ge­sell­schaft nun erwar­tet. Selbst­ver­ständ­lich wird der einem Holz­stamm ähn­li­che Scho­ko­la­den­ku­chen, Bûche de Noël, auf­ge­tischt, der eine alte Tra­di­ti­on sym­bo­li­siert, aus Zei­ten, in denen trocke­nes Feu­er­holz teu­er war und jeder Gast ein Holz­scheit zum Hei­zen mit­brach­te. Nach die­sem Kalo­rien­an­schlag, der Puter war dage­gen harm­los, eröff­net die Köchin und Hüte­rin der Spei­se­kam­mer das wei­te Feld der süßen Ver­füh­run­gen: Fou­gas­se (Pfann­ku­chen), getrock­ne­te Fei­gen, Pista­zi­en, Dat­teln, Nüs­se, Man­deln, Hasel­nuss­nou­gat – und alles in klei­nen, raf­fi­nier­ten Ver­wand­lun­gen kom­bi­niert. Längst wird der Wunsch nach Moc­ca laut und erfüllt. André holt noch ein paar edle Schnäp­se aus der Anrich­te her­vor, die den Über­gang in die spä­te Nacht beglei­ten hel­fen und die alle­samt, ver­si­chert er sich und uns, ver­dau­ungs­för­dernd sei­en. Zum Schluss noch einen sanf­ten Marc de Cham­pa­gne, und Loïc und ich tau­meln in die mit­ter­nächt­li­che Schnee­luft, zurück in die Rue de Bayeux. Ich weiß nicht, wie sich Gott in Frank­reich fühlt, aber so muss es in etwa sein.

POSTSKRIPTUM – Das ist lan­ge her. Mein Ber­li­ner Nach­bar Denis M., ein gebür­ti­ger Nord­fran­zo­se, erzähl­te mir letz­tens vom Ursprung des legen­dä­ren Trou Nor­mand, das aus der bäu­er­li­chen Welt der Nor­man­die sich her­lei­tet. Es ging einst um die aus­führ­li­chen Mit­tag­essen mit guten Freun­den, Bau­ern der Umge­bung, die sich oft bis in den spä­ten Nach­mit­tag hin­zie­hen konn­ten. Sie wur­den gegen 17 Uhr vom plötz­li­chen Ver­schwin­den der Gäste unter­bro­chen, die noch schnell einen Cal­va­dos tran­ken und weg waren, daheim die Kühe zu mel­ken. Als sie zurück­ka­men, war bereits Abend­essen ange­sagt, nicht ganz so üppig wie zu Mit­tag, aber auch das zog sich. Die­se Unter­bre­chung zwi­schen Mit­tag- und Abend­essen, das ist das ursprüng­li­che und weit grö­ße­re Nor­man­ni­sche Loch, umstellt von eini­gen Glä­sern Calvados.