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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Alle Jahre wieder

Die Enkel kne­ten den Teig, Bal­len für Bal­len von der Oma zube­rei­tet. Sie tei­len ihn, for­men nach und nach wal­nuss­gro­ße Kugeln, rol­len die­se über die Unter­la­ge zu kur­zen Strän­gen aus, bie­gen sie halb­mond­för­mig zu Vanil­le­kip­ferln, die dann von der Oma aufs Back­blech gelegt und in den Ofen gescho­ben werden.

Vor mei­nen Augen dreht sich das Rad der Zeit, und ich betre­te ein fer­nes Land: das Land mei­ner Kind­heits­hei­mat in einem klei­nen ver­schnei­ten Dorf, am Ende eines Tals gele­gen, von Win­ter­wald umge­ben. Im Herd kni­stert das Feu­er, ich sit­ze mit mei­ner Groß­mutter in der Küche am Tisch, vor uns eine Plat­te mit Teig und meh­re­re Aus­stech­förm­chen für Vier­tel­mon­de und Ster­ne, für Vögel und einen Niko­laus. Die gute Stu­be ist ver­schlos­sen. Es ist die Zeit der Vor­ah­nung und der Geheimnisse.

Weih­nach­ten lebt von Ritua­len. Gera­de Kin­der brau­chen Ritua­le. Aber nicht nur sie. Ritua­le sind wie Strick­lei­tern. Sie geben dem Inne­ren halt.

Weih­nach­ten begann mit dem Keks­backen. Und mit den Tan­nen­bäu­men. Sie tauch­ten plötz­lich auf, auf den Schul­tern der Dorf­be­woh­ner, frisch im Gemein­de­wald geschla­gen. Bezahlt wur­de spä­ter, wenn der Gemein­de­die­ner zum Abkas­sie­ren von Haus zu Haus ging.

Einer mei­ner schön­sten Weih­nachts­bäu­me stand Weih­nach­ten 1946 in unse­rem Wohn­zim­mer. Eines Tages, es war kurz vor dem Fest, war ich von fröh­li­chem Spiel im Schnee nach Hau­se gekom­men, hat­te die Küchen­tür geöff­net und war erschrocken ste­hen geblie­ben. »Mama«, ent­fuhr es mir, »was macht der frem­de Mann an unse­rem Küchenschrank?«

Der Frem­de war mein Vater. Aus dem Krieg heim­ge­kehrt. Geflo­hen aus irgend­ei­nem Lager in irgend­ei­nem Land »im Osten«. Er war mar­schiert, »soweit die Füße tra­gen«, in umge­kehr­ter Rich­tung als Jah­re zuvor, und nun war er zu Hau­se bei Frau und Kind, kurz vor Weih­nach­ten. Noch am sel­ben Nach­mit­tag hol­ten wir den Schlit­ten her­aus, ich wur­de den Hang neben dem Haus hoch­ge­zo­gen, und dann ging es in rasan­ter Fahrt abwärts. Der Schnee stob zur Sei­te, und die ande­ren Kin­der wichen ehr­fürch­tig aus, bestaun­ten den Mann mit der dicken, fremd­ar­ti­gen Fell­müt­ze und der dicken, wat­tier­ten Jacke. Bestaun­ten mich. Und man­che, deren Väter »im Fel­de« geblie­ben waren, benei­de­ten mich.

In mei­ner Kind­heit und Jugend­zeit fiel im Win­ter dort, wo ich wohn­te, viel Schnee. In man­chem Jahr türm­te er sich links und rechts der geräum­ten, noch unbe­fe­stig­ten Stra­ße so hoch auf, dass die Bus­se, die unser Dorf mit den ande­ren Dör­fern der Umge­bung, der nahen Klein­stadt und der Bahn­strecke in einem neu ein­ge­rich­te­ten Lini­en­ver­kehr ver­ban­den, zwi­schen den Schnee­qua­dern verschwanden.

Schnee knirsch­te unter den Soh­len. Am schön­sten knirsch­te er in der Weih­nachts­nacht. Wir waren die ein­zi­ge Fami­lie evan­ge­li­schen Glau­bens in dem anson­sten katho­li­schen Dorf. Was aller­dings kei­ne Pro­ble­me unter­ein­an­der mach­te, nur: Wäh­rend die Katho­li­ken bloß der Durch­gangs­stra­ße bis zur näch­sten Gemein­de fol­gen muss­ten, um zu ihrer Kir­che zu kom­men, muss­ten wir, wie bei Peter Roseg­ger (»Wald­hei­mat«), wie bei Adal­bert Stif­ter (»Berg­kri­stall«), auch mit­ten im Win­ter über unweg­sa­me, häu­fig spur­lo­se Pfa­de zuerst den Berg hoch­stap­fen, ihn dann wie­der auf der ande­ren Sei­te ins Tal hin­a­b­rut­schen in den evan­ge­li­schen Nach­bar­ort, bevor es wie­der auf eine Anhö­he ging, wo unser Kirch­lein sei­nen spit­zen Turm in den Him­mel reckte.

Hier, in der spär­lich erleuch­te­ten Kir­che, wur­de dann die Fro­he Bot­schaft ver­kün­det, wie sie im Lukas­evan­ge­li­um geschrie­ben steht, in spä­te­ren Jah­ren regel­mä­ßig mit einem Krip­pen­spiel unter­malt, für das schon im Herbst Hir­ten und Bau­ern und Wir­te gesucht wur­den, aber auch die Dar­stel­ler der Maria und des Josef. Ich erin­ne­re mich an kein Kind, das nicht an das Wun­der geglaubt hat, das all­jähr­lich in der Hei­li­gen Nacht von Neu­em geschah und das in der Kir­che dar­ge­stellt wur­de. Es griff ans kind­li­che Herz, wenn in dem Spiel die raue Stim­me des Wir­tes frag­te: »Wer klopf­et an?«, und Maria und Joseph sanft ant­wor­te­ten: »O zwei gar arme Leut.« Und wei­ter: »Was wollt ihr dann?« »O gebt uns Her­berg heut.« Schier uner­träg­lich, wie zuerst die­ser Wirt und dann die ande­ren Wir­te, bei denen das Hei­li­ge Paar anklopf­te, die­sem ent­ge­gen­rie­fen: »Nein, es kann ein­mal nicht sein, da geht nur fort! Ihr kommt nicht rein.« Zum Glück war ein Stall in der Nähe, mit Ochs und Esel. (Nach 1950 wur­de übri­gens die­ses sze­ni­sche Lied in der Bun­des­re­pu­blik in Schul­lie­der­bü­cher auf­ge­nom­men. Wür­de es heu­te noch in der Schu­le gespielt, müss­ten die Leh­re­rin­nen und Leh­rer wohl Ant­wort geben auf Schü­ler­fra­gen, was da an Euro­pas Außen­gren­zen los ist, wo es noch nicht ein­mal einen Stall für die Her­berg-Suchen­den gibt.)

Nach dem Got­tes­dienst wur­den in dem Nach­bar­ort noch Ver­wand­te besucht. Dort brann­ten bald die Wachs­ker­zen am Baum, und mei­ne Cou­sins und Cou­si­nen staun­ten schon über die bereit lie­gen­den Gaben. Wir aber muss­ten wie­der den Berg hin­an, dann durch den Wald und auf der ande­ren Sei­te hin­un­ter in unser Dorf. Der Schnee knirsch­te, aber es war Musik in den Ohren, es ging sich leicht, ange­trie­ben von der Vor­freu­de auf das, was die Eltern in der guten Stu­be vor­be­rei­tet hatten.

Viel spä­ter, als ich mich schon lan­ge der Insti­tu­ti­on Kir­che ent­frem­det hat­te, als wir, statt »Stil­le Nacht, hei­li­ge Nacht« zu sin­gen, lie­ber »Silent Night« von Elvis Pres­ley oder von John­ny Cash oder von Maha­lia Jack­son auf dem Plat­ten­tel­ler rotie­ren lie­ßen oder »The Litt­le Drum­mer Boy« von Ray Charles, da war also, Jah­re nach der Kind­heit, auch die Zeit gekom­men, die tra­di­tio­nel­le Christ­baum­spit­ze durch einen roten Stern zu erset­zen. Und den gar­sti­gen Weih­nachts­lie­dern des Bän­kel­sän­gers Die­ter Süver­krüp zu lau­schen, der in Düs­sel­dorf mit einer Agi­ta­ti­ons­grup­pe mit­ten im Ein­kaufs­tru­bel der Vor­weih­nachts­zeit Weih­nach­ten als Frie­dens­fest zu ver­tei­di­gen ver­such­te, mit einer roten Fah­ne im Arm.

Doch das Rad der Zeit dreh­te sich wei­ter, ging über Moden und Macken hin­weg. Der Mythos Weih­nach­ten blieb. All­jähr­lich stand am sel­ben Platz in unse­rem Wohn­zim­mer ein Weih­nachts­baum, mei­stens gera­de­so unter die Decke pas­send, so dass jetzt die Christ­baum­spit­ze schon aus prak­ti­schen Grün­den nicht mehr gebraucht wur­de. Dann wur­den die eige­nen Kin­der gebo­ren. Und Jahr für Jahr dreh­te sich für sie, wie inzwi­schen für die Enkel, wenn sich die vor­her abge­schlos­se­ne Wohn­zim­mer­tür öff­ne­te, auf dem Plat­ten­tel­ler die uralte LP aus dem Jahr 1958, die mit Glocken­ge­läut und Orgel­ge­brau­se und Chor­ge­sang nur die eine Bot­schaft ver­kün­det: dass jetzt für uns eine Zeit gekom­men ist, die uns eine gro­ße Freud bringt.

Gro­ße Freud gibt es wei­ter­hin in der Back­stu­be. Mei­ne Frau hat die Back­ofen­tür geöff­net. Die Kek­se sind fer­tig. Ihr Duft durch­zieht das Haus, und die Bäcker­ge­hil­fen pusten auf das erste Plätz­chen, um es so schnell wie mög­lich zu pro­bie­ren und dann ein Kon­tin­gent für Mama und Papa bei­sei­te zustel­len. Viel­leicht machen wir spä­ter noch einen Spa­zier­gang, durch den dunk­len Vor­abend, vor­bei an still erleuch­te­ten, bunt geschmück­ten Häu­sern, viel­leicht wan­dern wir an den weni­gen Häu­sern vor­bei »bis hin­aus aufs freie Feld«. Viel­leicht zitie­re ich ihnen aus dem Gedicht »Weih­nach­ten« von Joseph von Eichen­dorff. Wie alle Jah­re wieder.