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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Armut in einem reichen Land

Jahr­zehn­te­lang wur­de die Armut in der Bun­des­re­pu­blik ent­we­der igno­riert oder nach dem Mot­to »Not und Elend gibt es nur in Ent­wick­lungs­län­dern« rela­ti­viert. Wenn sie in den Medi­en über­haupt zum The­ma gemacht wur­de, dann höch­stens im Zusam­men­hang mit beson­ders spek­ta­ku­lä­ren Ereig­nis­sen bzw. tra­gi­schen Ein­zel­schick­sa­len: dem Käl­te­tod eines Obdach­lo­sen, dem Ver­hun­gern eines Klein­kin­des oder der Grün­dung einer »Tafel«, wie die Sup­pen­kü­chen heut­zu­ta­ge beschö­ni­gend genannt werden.

Um die bei­den wich­tig­sten Erschei­nungs­for­men der Armut von­ein­an­der abzu­gren­zen, unter­schei­det man in der Fach­li­te­ra­tur zwi­schen abso­lu­ter, extre­mer bzw. exi­sten­zi­el­ler Armut einer­seits sowie rela­ti­ver Armut ande­rer­seits. Von abso­lu­ter, exi­sten­zi­el­ler oder extre­mer Armut ist betrof­fen, wer sei­ne Grund­be­dürf­nis­se nicht zu befrie­di­gen ver­mag, also die zum Über­le­ben not­wen­di­gen Nah­rungs­mit­tel, siche­res Trink­was­ser, eine den kli­ma­ti­schen Bedin­gun­gen ange­mes­se­ne Klei­dung, eine medi­zi­ni­sche Basis­ver­sor­gung und/​oder eine Woh­nung entbehrt.

Laut den Anga­ben der Welt­bank, die eine Inter­na­tio­na­le Armuts­gren­ze (Inter­na­tio­nal Pover­ty Line, IPL) fest­ge­legt hat, ist eine Per­son arm, die mit weni­ger als 1,90 US-Dol­lar (kauf­kraft­be­rei­nigt, d. h. bezo­gen auf das Preis­ni­veau der Ver­ei­nig­ten Staa­ten) pro Tag aus­kom­men muss. In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten wür­de man mit einem so gerin­gen Geld­be­trag aller­dings nach kur­zer Zeit ver­hun­gern. Außer­dem beruht die Bestim­mung der Kauf­kraft­pa­ri­tä­ten auf inter­na­tio­na­len Waren­kör­ben, die sich nicht am spe­zi­fi­schen Ver­brauchs­ver­hal­ten von Armen ori­en­tie­ren. Man­ches deu­tet somit dar­auf hin, dass es sich beim Rück­gang der glo­ba­len Armut, den man von Zeit zu Zeit fei­ert, um ein sta­ti­sti­sches Arte­fakt han­delt. Ohne den Wirt­schafts­auf­schwung von Indi­en und der Volks­re­pu­blik Chi­na wäre ver­mut­lich sogar ein Anstieg der extre­men Armut im Welt­maß­stab zu ver­zeich­nen. Wür­de man die natio­na­len Armuts­gren­zen der ein­zel­nen Staa­ten ver­wen­den, ergä­be sich ein ganz ande­res, viel genaue­res Bild der glo­ba­len Armut.

Selbst das phy­si­sche Exi­stenz­mi­ni­mum sowie die Gren­ze von der rela­ti­ven zur abso­lu­ten Armut sind nur schwer fest­zu­le­gen, weil sie bei­spiels­wei­se davon abhän­gen, ob es sich um ein war­mes oder um ein kal­tes Land han­delt, in dem jemand lebt. Um es an einem Fall­bei­spiel zu illu­strie­ren: Wer in Sibi­ri­en kei­nen Pull­over besitzt, ist höchst­wahr­schein­lich arm; wer süd­lich der Saha­ra wohnt und kei­nen Pull­over besitzt, ist es des­halb noch lange.

Für man­che Beob­ach­ter exi­stiert Armut aus­schließ­lich in Staa­ten wie Bur­ki­na Faso, Ban­gla­desch oder Mosam­bik, aber nicht in der Bun­des­re­pu­blik. Wäh­rend nie­mand bezwei­felt, dass es im glo­ba­len Süden (extre­me) Armut gibt, wird mit Ver­ve dar­über gestrit­ten, ob sie auch hier­zu­lan­de gras­siert. Für die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen wirkt es natür­lich beru­hi­gend und sie selbst ent­la­stend, wenn das Phä­no­men aus­schließ­lich in Ent­wick­lungs­län­dern ver­or­tet wird. Rea­li­täts­sinn beweist man aber nicht durch die Igno­ranz gegen­über einem sozia­len Pro­blem. Woh­nungs- und Obdach­lo­se, total ver­elen­de­te Dro­gen­ab­hän­gi­ge, »Stra­ßen­kin­der«, bei denen es sich meist um obdach­lo­se Jugend­li­che han­delt, unbe­glei­te­te min­der­jäh­ri­ge Flücht­lin­ge, EU-Aus­län­der/in­nen ohne Sozi­al­lei­stungs­an­sprü­che und »Ille­ga­le«, die man bes­ser als ille­ga­li­sier­te Migrant(inn)en bezeich­net, gehö­ren hier­zu­lan­de zu den Haupt­be­trof­fe­nen von abso­lu­ter, extre­mer bzw. exi­sten­zi­el­ler Armut.

Woh­nungs­los sind Men­schen, die weder über selbst­ge­nutz­tes Wohn­ei­gen­tum noch über ein Miet­ver­hält­nis ver­fü­gen und des­halb in Not­un­ter­künf­ten leben oder bei Freun­den und Bekann­ten näch­ti­gen. Obdach­los sind Men­schen, die auf der Stra­ße leben. Für 2018 lag die Schät­zung der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Woh­nungs­lo­sen­hil­fe, wel­cher man­gels ande­rer offi­zi­el­ler und exak­ter Daten auch die Armuts- und Reich­tums­be­rich­te der Bun­des­re­gie­rung ver­trau­en, bei 678.000 Men­schen, die im Lau­fe des Jah­res woh­nungs­los waren, dar­un­ter 441.000 aner­kann­te Flücht­lin­ge. Immer mehr gestran­de­te Arbeitsmigrant(inn)en und Geflüch­te­te tei­len auch das Schick­sal von Obdach­lo­sen, unge­schützt der Wit­te­rung und wehr­los den Angrif­fen rech­ter Schlä­ger und alko­ho­li­sier­ter Jugend­li­cher aus­ge­setzt zu sein. Allein seit 1990 sind über 300 Obdach­lo­se der Käl­te zum Opfer gefal­len, ohne dass die hie­si­ge (Medien-)Öffentlichkeit mehr als nur spo­ra­disch Notiz von den Tra­gö­di­en genom­men hät­te, die sich auf unse­ren Stra­ßen abspielen.

Statt die extre­me Armut in ihrer Kom­mu­ne zu bekämp­fen, bekämp­fen man­che Stadt­ver­wal­tun­gen lie­ber die extrem Armen. Für die auf der Stra­ße leben­den Men­schen, Mit­glie­der der Dro­gen­sze­ne, Alko­hol­kran­ke und Bettler/​innen, gilt ein beson­ders stren­ges Armuts­re­gime: Poli­zei­raz­zi­en, Platz­ver­wei­se, Auf­ent­halts­ver­bo­te und Schi­ka­nen pri­va­ter Sicher­heits­dien­ste, durch die sozi­al Benach­tei­lig­te aus den Innen­städ­ten ver­trie­ben wer­den, sind typisch dafür. Indem man Obdach­lo­sen den öffent­li­chen Raum und die Wür­de nimmt, erklärt man sie zu Men­schen zwei­ter Klasse.

Wäh­rend die abso­lu­te Armut eine exi­sten­zi­el­le Man­gel­er­schei­nung ist, ver­weist die rela­ti­ve Armut auf den Wohl­stand, der sie umgibt, und den Reich­tum, der sie her­vor­bringt. Denn ursäch­lich dafür ist nicht etwa das Ver­hal­ten der Betrof­fe­nen, aus­schlag­ge­bend sind viel­mehr die sozio­öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se, unter denen sie leben (müs­sen). In einer so rei­chen Gesell­schaft wie der unse­ren ist Armut nicht gott- oder natur­ge­ge­ben, son­dern letzt­lich syste­misch, d.h. durch die bestehen­den Eigen­tums-, Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nis­se bedingt. Die­sen kön­nen sich beson­ders vul­nerable Per­so­nen­grup­pen schwer ent­zie­hen, weil sie auf­grund ihrer schwa­chen Stel­lung in der kapi­ta­li­sti­schen Wirt­schafts­ord­nung struk­tu­rell benach­tei­ligt sind.

Von rela­ti­ver Armut ist betrof­fen, wer zwar sei­ne Grund­be­dürf­nis­se befrie­di­gen, sich aber nur das Aller­nö­tig­ste lei­sten und man­gels finan­zi­el­ler Mit­tel nicht oder nicht in aus­rei­chen­dem Maße am gesell­schaft­li­chen Leben betei­li­gen kann. Den all­ge­mein übli­chen Lebens­stan­dard in sei­nem Land unter­schrei­tet ein rela­tiv Armer über län­ge­re Zeit hin­weg deut­lich. Nach einem Beschluss des Euro­päi­schen Rates vom 19. Dezem­ber 1984 gel­ten die­je­ni­gen Ein­zel­per­so­nen, Fami­li­en und Per­so­nen­grup­pen als ver­armt, die über so gerin­ge (mate­ri­el­le, kul­tu­rel­le und sozia­le) Mit­tel ver­fü­gen, dass sie von der in ihrem Mit­glied­staat als Mini­mum akzep­ta­blen Lebens­wei­se aus­ge­schlos­sen sind. Damit ver­bun­den sind mate­ri­el­le Defi­zi­te und feh­len­de Partizipationsmöglichkeiten.

Nach einer Kon­ven­ti­on der Euro­päi­schen Uni­on sind Per­so­nen armuts­ge­fähr­det, die weni­ger als 60 Pro­zent des Medi­an­ein­kom­mens ihres Mit­glied­staa­tes zur Ver­fü­gung haben. 2019 – die Zah­len für 2020 lie­gen bis­her nicht vor, dürf­ten wegen der Covid-19-Pan­de­mie aber kaum nied­ri­ger sein – erreich­te die Armuts(gefährdungs)quote in Deutsch­land den Rekord­stand von 15,9 Pro­zent. Die höch­sten Armuts­ri­si­ken wie­sen Erwerbs­lo­se (57,9 Pro­zent), Allein­er­zie­hen­de (42,7 Pro­zent) und Nicht­deut­sche (35,2 Pro­zent) auf. Kin­der, Jugend­li­che und Her­an­wach­sen­de waren eben­falls stark betrof­fen, wäh­rend das Armuts­ri­si­ko der Senior(inn)en seit gerau­mer Zeit am stärk­sten zunimmt.

Dem­nach waren 13,2 Mil­lio­nen Men­schen von (rela­ti­ver) Armut betrof­fen oder bedroht, weil sie weni­ger als 60 Pro­zent des bedarfs­ge­wich­te­ten mitt­le­ren Haus­halts­net­to­ein­kom­mens zur Ver­fü­gung hat­ten, was für Allein­ste­hen­de 1.074 Euro im Monat ent­sprach. Davon muss­ten sie, wenn ihnen kei­ne Immo­bi­lie gehör­te, noch die Mie­te für ihre Woh­nung bezah­len, was deut­lich macht, wie beschei­den in aller Regel ihr Lebens­stan­dard war. Kurz­um, es han­del­te sich um Ein­kom­mens­ar­mut, nicht um »Armuts­ge­fähr­dung«, wie es bei­spiels­wei­se in den Armuts- und Reich­tums­be­rich­ten der Bun­des­re­gie­rung arg ver­harm­lo­send heißt. Außer­dem ver­deut­li­chen die genann­ten Daten, dass Armut in der Bun­des­re­pu­blik schon lan­ge kein Rand(gruppen)phänomen mehr ist, als das sie bis heu­te gern rela­ti­viert wird, son­dern immer stär­ker zur Mit­te der Gesell­schaft vordringt.

Prof. Dr. Chri­stoph But­ter­weg­ge hat bis 2016 Poli­tik­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät zu Köln gelehrt. Kürz­lich ist sein Buch »Armut« in einer 5., aktua­li­sier­ten und erwei­ter­ten Auf­la­ge bei Papy­Ros­sa erschie­nen. In die­sen Tagen (August 2021) erscheint außer­dem bei Cam­pus das Buch »Kin­der der Ungleich­heit«, das Chri­stoph But­ter­weg­ge gemein­sam mit sei­ner Frau Caro­lin But­ter­weg­ge geschrie­ben hat.