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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Christliches Testament für die Linke

Es wird bei dir kei­ne Armen geben, denn reich­lich wird der Herr dich seg­nen in dem Land, das er dir geben wird. (5. Mose 15,4)

Ein Satz, der wie gemei­ßelt vor uns steht. Wir fin­den in die­ser Ver­hei­ßung kein Viel­leicht, kein Fra­ge­zei­chen, kei­ne Bedin­gung. Nein, hier gibt Gott sei­nem Volk vor drei­tau­send Jah­ren das unum­stöß­li­che Ver­spre­chen: Bei dir, Isra­el, wird es kei­ne Armen gegen. Stau­nend hören wir die­se Pro­phe­zei­ung, die von der Gegen­wart noch so weit ent­fernt ist. Schlim­mer: Die längst von einer ande­ren Pro­phe­zei­ung ersetzt scheint. »Es wird bei dir immer mehr Arme geben, denn reich­lich wird das kapi­ta­li­sti­sche System die Rei­chen seg­nen

Doch wie kam es in Isra­el zu die­ser unglaub­li­chen Gewiss­heit von einer künf­ti­gen sozia­len Gerech­tig­keit, wie kam es zu die­ser Zuver­sicht? Um das zu ver­ste­hen, muss man sich die Geschich­te des Vol­kes Isra­el anse­hen. Die Israe­li­ten waren ein Noma­den­volk und Noma­den ken­nen kei­nen Pri­vat­be­sitz. Ihre Land­schaft ist offen und jene Orte, die zum Über­le­ben der Sip­pen und des Viehs uner­läss­lich sind, die Was­ser­stel­len näm­lich, müs­sen für alle zugäng­lich sein. Wer hier Pri­vat­be­sitz bean­sprucht, zer­stört das Leben der Gemein­schaft und ver­nich­tet gan­ze Fami­li­en­ver­bän­de. Wes­halb wir in der Bibel immer wie­der den Streit der Hir­ten dar­über fin­den, wer sei­ne Her­de zuerst trän­ken darf. Denn manch­mal war die Was­ser­stel­le schon erschöpft, bevor die letz­te Her­de trin­ken konn­te. Dann stand alles auf dem Spiel: Das Leben des Viehs und das Leben der Sip­pe. Jakob erwarb sich die Lie­be sei­ner Rahel, weil er bei ihrer ersten Begeg­nung dafür sorgt, dass Rahels Her­de zuerst trin­ken durfte.

Schritt­wei­se wur­den die noma­di­sie­ren­den Stäm­me der Israe­li­ten sess­haft. Doch sie konn­ten sich nicht ein­fach alle ein Stück Land neh­men. Vor allem des­halb, weil schon ein ande­res Volk in dem Land leb­te, die Kanaa­nä­er näm­lich. Die frei­lich wohn­ten in Städ­ten und gaben den Israe­li­ten Platz für den Acker­bau auf den umlie­gen­den Fel­dern, die man sich aber nicht zu frucht­bar vor­stel­len darf, son­dern die eher Halb­wü­sten gli­chen. Das geschenk­te Land wur­de gleich­mä­ßig ver­teilt, jede Sip­pe bekam ihren Anteil, wel­cher das war, bestimm­te das Los. Und Los­ent­scheid hieß immer Got­tes­ur­teil. Die Faust­re­gel lau­te­te: ein Sip­pen­äl­te­ster, ein Haus, ein Anteil an Boden. Der Land­be­sitz durf­te nur in einer extre­men Not­la­ge ver­kauft werden.

Grund und Boden darf nicht für immer ver­kauft wer­den, denn das Land ist mein und ihr seid Fremd­lin­ge und Bei­sas­sen bei mir. (3. Mose 25,23)

In jedem sieb­ten Jahr muss­te das Land ruhen. Die­se Regel beug­te einer­seits einer Über­säue­rung des Bodens vor, ande­rer­seits erin­ner­te sie dar­an, wem das Land wirk­lich gehör­te: Gott nämlich.

Sechs Jah­re kannst Du in dei­nem Land säen und die Ern­te ein­brin­gen, im sieb­ten sollst du es brach lie­gen las­sen und nicht bestel­len. Die Armen in dei­nem Volk sol­len davon essen, den Rest mögen die Tie­re des Fel­des fres­sen. Das Glei­che sollst du mit dei­nem Wein­berg und dei­nen Ölbäu­men tun. (2. Mose 23, 10-12)

Das war ein völ­lig ande­res Ver­ständ­nis von Besitz, als es das Volk Isra­el in sei­nem Umfeld vor­fand. In Ägyp­ten gehör­te das Land dem Pha­rao, er konn­te damit schal­ten und wal­ten, wie er woll­te. Isra­el aber kann­te nur einen wah­ren König, sei­nen Gott Jahwe.

Ein alt­te­sta­men­ta­ri­sches Gesetz, ein Gebot der Tora, an das sich die Israe­li­ten zu jener Zeit gebun­den fühl­ten, schreibt – ein­ma­lig in der Mensch­heits­ge­schich­te – alle fünf­zig Jah­re ein soge­nann­tes Erlass­jahr, Hall­jahr oder Jubel­jahr vor: In die­sem Jahr wur­den sämt­li­che Schul­den erlas­sen und der ver­kauf­te Boden, also die in der Not ver­äu­ßer­te Exi­stenz­grund­la­ge, wur­de der Sip­pe zurück­ge­ge­ben. Die Not oder die Miss­wirt­schaft der Väter soll­ten nicht von den Nach­kom­men aus­ge­ba­det wer­den müs­sen. Nach dem Hall­jahr waren alle wie­der gleich, hat­ten alle wie­der die glei­chen Chan­cen. Das Hall­jahr wur­de übri­gens mit dem Bla­sen des Wid­der­horns eröff­net, des­sen hebräi­scher Name ‹yôvel› in ‹Jubel­jahr› erhal­ten blieb.

Für die­je­ni­gen, deren poli­ti­sches Ziel eine sozi­al gerech­te Gesell­schaft ist, soll­ten das Alte und das Neue Testa­ment Pflicht­lek­tü­re sein.

Es wird bei dir kei­ne Armen geben, denn reich­lich wird der Herr dich seg­nen in dem Land, das er dir geben wird. (5. Mose 15,4)