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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hinter Gittern: Arme unter sich

Das Bun­des­kri­mi­nal­amt stellt sei­nen aktu­el­len »Lage­bil­dern Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät« die­sen Satz vor­aus: »Die durch die Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät ver­ur­sach­ten Schä­den belau­fen sich auf über 50 Pro­zent des Gesamt­scha­dens­vo­lu­mens aller in der Poli­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­ti­stik erfass­ten Straf­ta­ten.« Mit ande­ren Wor­ten: der von den soge­nann­ten »Wei­ße-Kra­gen-Tätern« ange­rich­te­te Scha­den ist grö­ßer als alles, was arme Betrü­ger, Die­be, Ein­bre­cher, Erpres­ser und Räu­ber zusam­men anrich­ten. Den­noch wird »arm« viel eher mit Kri­mi­na­li­tät ver­bun­den als »reich«.

Im 6. Armuts- und Reich­tums­be­richt der Bun­des­re­gie­rung wird der Bevöl­ke­rungs­an­teil, der über ein Ein­kom­men von weni­ger als 60 Pro­zent des Medi­an­ein­kom­mens ver­fügt, als rela­tiv arm bezeich­net oder sogar nur als armuts­ge­fähr­det, näm­lich 15 bis 16 Pro­zent der Bevöl­ke­rung mit leicht stei­gen­der Ten­denz. »Über­durch­schnitt­li­che Armuts­ri­si­ko­quo­ten hat­ten jun­ge Erwach­se­ne, Allein­le­ben­de, Allein­er­zie­hen­de, Arbeits­lo­se, Per­so­nen mit gerin­ger Bil­dung und Per­so­nen mit Migrationshintergrund.«

Die Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft für Straf­fäl­li­gen­hil­fe (BAG-S) begrüßt, dass in dem Bericht »auf das Unter­kunfts­pro­blem straf­fäl­lig gewor­de­ner Men­schen« hin­ge­wie­sen wird: »Ohne gesi­cher­ten Wohn­raum kann eine Wie­der­ein­glie­de­rung nicht gelin­gen. In Zei­ten ange­spann­ter Woh­nungs­märk­te haben es Haft­ent­las­se­ne beson­ders schwer, eine Woh­nung zu fin­den. Umso wich­ti­ger ist es, bestehen­den Wohn­raum wäh­rend einer kur­zen Inhaf­tie­rung zu erhal­ten und den Zugang zu Wohn­raum nach lan­ger Haft zu erleich­tern.« Deut­lich kri­ti­siert wird von der BAG-S, dass straf­fäl­lig gewor­de­ne Men­schen im Armuts- und Reich­tums­be­richt in allen ande­ren Berei­chen – wie Arbeit, Bil­dung, Gesund­heit und gesell­schaft­li­che oder poli­ti­sche Teil­ha­be – nicht extra erwähnt wer­den. Und die BAG-S weist wie schon oft dar­auf hin, dass Arbeit in der Haft nach wie vor kei­ne Berück­sich­ti­gung in der Ren­ten­ver­si­che­rung fin­det, dass also für die­se Arbeit kei­ne Bei­trä­ge zur Ren­ten­ver­si­che­rung gezahlt wer­den: »Die Zeit der Straf­haft ist eine in vol­lem Umfang ren­ten­ver­si­che­rungs­lo­se Zeit.«

Die Fra­ge, war­um und unter wel­chen sozia­len Bedin­gun­gen Men­schen straf­fäl­lig oder erneut straf­fäl­lig wer­den, ist kein The­ma für die staat­li­chen Daten­samm­ler. Jeweils zum Stich­tag 31. März ver­öf­fent­lich das Sta­ti­sti­sche Bun­des­amt zwar Sta­ti­sti­ken zu den demo­gra­phi­schen und kri­mi­no­lo­gi­schen Merk­ma­len der Straf­ge­fan­ge­nen: Alter, Geschlecht, Art des Voll­zugs, Dau­er der Frei­heits­stra­fe, Wohn­sitz, Staats­an­ge­hö­rig­keit, Fami­li­en­stand und Vor­stra­fe. Doch ob sie bei der Ver­haf­tung Arbeit hat­ten, wie viel sie ver­dient haben, ob sie von Hartz IV leb­ten, ob sie ver­schul­det waren, wel­chen Bil­dungs­ab­schluss und wel­che Berufs­aus­bil­dung sie hat­ten, wird eben­so wenig mit­ge­teilt, wie Daten zu Krank­hei­ten und Sucht.

Klei­ne Unter­su­chun­gen aus ein­zel­nen Straf­an­stal­ten oder Regio­nen, so Nor­bert Püt­ter 2019 in der Zeit­schrift Bür­ger­rech­te & Polizei/​CILIP, »zei­gen aber über­ein­stim­mend, dass die Straf­ge­fan­ge­nen über­durch­schnitt­lich Merk­ma­le sozia­ler Rand­stän­dig­keit auf­wei­sen: ohne Schul­ab­schluss (je nach Stu­di­en zwi­schen 13 und 32 Pro­zent) oder mit Haupt­schul­ab­schluss (zwi­schen 37 und 47 Pro­zent), kei­ne Berufs­aus­bil­dung (zwi­schen 49 und 61 Pro­zent), ALG-II-Bezug (zwi­schen 44 und 50 Prozent)«.

Auch die Anga­ben des Sta­ti­sti­schen Bun­des­am­tes zum Wohn­sitz bele­gen deut­lich die »sozia­le Rand­stän­dig­keit«: Danach waren (am 31. März 2020) von den 46.054 inhaf­tie­ren Gefan­ge­nen 6.187 ohne festen Wohn­sitz, das sind 13 Pro­zent aller Inhaf­tier­ten. Da die Zahl der im Armuts- und Reich­tums­be­richt geschätz­ten Woh­nungs­lo­sen deut­lich unter einem Pro­zent der Bevöl­ke­rung liegt, sind die Woh­nungs­lo­sen im Straf­voll­zug mehr als 13fach überrepräsentiert.

In ihrer Dis­ser­ta­ti­on »Kri­mi­na­li­tät, Kri­mi­na­li­sie­rung und Woh­nungs­lo­sig­keit« hat sich Mari­on Mül­ler mit der Kri­mi­na­li­sie­rung der Woh­nungs­lo­sen aus­ein­an­der­ge­setzt: »Ein ein­sei­ti­ger, stig­ma­ti­sie­ren­der Blick­win­kel à la Woh­nungs­lo­se trin­ken, bet­teln und klau­en, ist nicht halt­bar. Genau­so wenig soll­te man sich aller­dings dazu ver­lei­ten las­sen, aus­schließ­lich einen mit­lei­di­gen Blick­win­kel anzu­set­zen. Bei­de Sicht­wei­sen ver­sper­ren die Sicht auf woh­nungs­lo­se Men­schen als die indi­vi­du­el­len Per­so­nen, die sie sind: weder Täter noch Opfer ihrer Situa­ti­on, aber umrahmt von extre­men Bedin­gun­gen, die ihren Hand­lungs­ent­wür­fen und -mög­lich­kei­ten ent­ge­gen­ste­hen können.«

Ihre Fol­ge­rung: »Wür­den sich die Ver­ant­wort­li­chen hin­sicht­lich der Sank­tio­nie­rung von straf­fäl­lig gewor­de­nen Woh­nungs­lo­sen etwas mehr mit der Lebens­welt Woh­nungs­lo­sig­keit beschäf­ti­gen, käme es zu weni­ger absur­den Urtei­len gera­de hin­sicht­lich Baga­tell­de­lik­ten im Wie­der­ho­lungs­fall. Die zum Teil völ­lig ver­fehl­ten, unver­hält­nis­mä­ßig har­ten und vor allem sinn­lo­sen straf­recht­li­chen Kon­se­quen­zen könn­ten in vie­len Fäl­len umge­wan­delt wer­den in adäqua­te, sinn­vol­le­re Alternativsanktionen.«

Nicht ganz so dra­stisch aber auch deut­lich über­re­prä­sen­tiert im Straf­voll­zug sind Aus­län­der. Von den 83.019.213 Ein­woh­nern in der Bun­des­re­pu­blik waren 2018 genau 10.089.292 ohne deut­schen Pass, das waren 12,2 Pro­zent der Bevöl­ke­rung. Das Sta­ti­sti­sche Bun­des­amt mel­de­te am 31.März 2020 15.641 inhaf­tier­te Aus­län­der. Das waren 34 Pro­zent aller Gefangenen.

Die Delik­te von »nicht­deut­schen Tat­ver­däch­ti­gen« wer­den von der Poli­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­ti­stik ohne jeden Bezug zu ihrer sozia­len Lage auf­ge­li­stet, eben­so wie die Kate­go­rie »Aus­län­der« in der Straf­voll­zugs­sta­ti­stik. Dabei sind die »nicht­deut­schen Tat­ver­däch­ti­gen« in der Regel min­de­stens genau­so arm und schlecht gebil­det wie ihre Mit­ge­fan­ge­nen mit deut­schen Pass und zusätz­lich aus­ge­stat­tet mit unter­schied­li­chen Vari­an­ten eines schwa­chen Auf­ent­halts­sta­tus – soweit sie über­haupt einen haben. Was sie noch ver­wund­ba­rer macht. Ein nicht uner­heb­li­cher Teil der Straf­ta­ten von »Aus­län­dern« sind Ver­stö­ße gegen das Aus­län­der­recht, also Delik­te, die nur Migran­ten bege­hen können.

Die Kri­mi­na­li­sie­rung von Armen wird eben­falls am Bei­spiel der Ersatz­frei­heits­stra­fen deut­lich, nach­zu­le­sen in einem aktu­el­len Auf­satz aus dem Köl­ner Insti­tut für Kri­mi­no­lo­gie: Im Jahr 2019 kam es in der Bun­des­re­pu­blik zu 669.784 Ver­ur­tei­lun­gen nach dem All­ge­mei­nen Straf­recht. 567.243 der Urtei­le waren Geld­stra­fen – rund 85 Pro­zent. Der Rest waren Frei­heits­stra­fen mit und ohne Bewäh­rung. Men­schen, die ihre Geld­stra­fe nicht bezah­len, müs­sen die Stra­fe absit­zen, erhal­ten also eine Ersatz­frei­heits­stra­fe. Im Jahr 2019 zum Bei­spiel betraf das 32.500 Per­so­nen. In ihrer für NRW ver­fass­ten Stu­die »Kri­mi­na­li­tät der Armen – Kri­mi­na­li­sie­rung von Armut?« stel­len Frank Neu­ba­cher und Nico­le Böge­lein für das Jahr 2017 fest: 77 Pro­zent der »Ersatz­frei­heits­straf­ler« waren vor Haft­an­tritt arbeits­los, 72 Pro­zent waren woh­nungs­los, 60 Pro­zent hat­ten kei­nen Beruf erlernt, 10 Pro­zent von ihnen hat­ten Schul­den über 20.000 Euro: »Das Straf­recht und die Straf­voll­streckung soll­ten nicht jene Men­schen beson­ders hart tref­fen, die bereits benach­tei­ligt sind.«

War­um an der Ersatz­frei­heits­stra­fe fest­ge­hal­ten wird, obwohl der ange­rich­te­te Scha­den durch die häu­fi­gen Armuts­de­lik­te »Schwarz­fah­ren« und Waren­haus­dieb­stahl in kei­nem Ver­hält­nis zu den hohen Kosten der Gefäng­nis­un­ter­brin­gung steht, hat Frank Wil­de in sei­nem Bei­trag »Das Gefäng­nis als Armen­haus« in der Zeit­schrift West­End 2/​2017 erklärt: »Die Inter­es­sen­ver­bän­de der Ver­kehrs­be­trie­be und des Ein­zel­han­dels befür­wor­ten eine abschrecken­de Stra­fe. Da Buß­gel­der oder Haus­ver­wei­se bei der Per­so­nen­grup­pe wenig wirk­sam sind, drän­gen sie öffent­lich­keits­wirk­sam dar­auf, dass die Delik­te wei­ter als Kri­mi­nal­stra­fen und damit letzt­end­lich als Frei­heits­stra­fe ver­folgt wer­den.« Viel­leicht könn­te die Macht die­ser Lob­by­ver­bän­de dadurch gebro­chen wer­den, dass in den Medi­en dar­an erin­nert wird, dass »Schwarz­fah­ren« und Waren­haus­dieb­stahl zwar oft ver­ständ­li­che Armuts­fol­gen sind, aber auch des­halb Mas­sen­de­lik­te wer­den konn­ten, weil in den Stra­ßen- und U-Bah­nen die Schaff­ner abge­schafft wur­den und in den Waren­häu­sern immer weni­ger Ver­käu­fe­rin­nen für immer mehr Selbst­be­die­nungs­flä­chen zustän­dig wurden.

Beson­ders nie­der­schmet­ternd im Zah­len­werk des Sta­ti­sti­schen Bun­des­am­tes sind die Anga­ben zu den Vor­stra­fen. Von den 46.054 Straf­ge­fan­ge­nen waren am 31.März 2020 31.372 vor­be­straft. Und die wenig­sten nur ein­mal: Jeder Drit­te von ihnen, das waren 10.042 Men­schen, war fünf- bis zehn­mal vor­be­straft. Wei­te­re 4.478 waren elf- bis zwan­zig­mal vor­be­straft und 764 mehr als einundzwanzigmal.

In der vom Frank­fur­ter Insti­tut für Sozi­al­for­schung her­aus­ge­ge­be­nen Zeit­schrift West­End (Aus­ga­be 2017/​2) fin­det sich unter dem Stich­wort »Gefäng­nis und Armut« fol­gen­der Kom­men­tar: »Den Zusam­men­hang von Armut und Gefäng­nis her­aus­zu­stel­len, bedeu­tet dann, das Gefäng­nis als einen gesell­schaft­li­chen Ort von sozi­al seg­re­gie­ren­den und dif­fe­ren­zie­ren­den Dyna­mi­ken und Pro­zes­sen zu begrei­fen, der nicht Lösung, Ant­wort oder Reak­ti­on auf Kri­mi­na­li­tät, son­dern den viel­leicht zen­tra­len Mecha­nis­mus ihrer Repro­duk­ti­on darstellt.«

Und in ihrem Auf­satz »Wes­halb Arme so leicht kri­mi­nell wer­den müs­sen« hat die Kri­mi­no­lo­gin Hel­ga Cremer-Schä­fer die Grün­de für die Kri­mi­na­li­sie­rung der Armut auf den Punkt gebracht: »Das Straf­ge­setz miss­bil­ligt in sei­nen wich­tig­sten Tei­len (und ›Delik­ten‹) die Hand­lungs­stra­te­gien und Mit­tel, auf die jun­ge, mit­tel­lo­se undis­zi­pli­nier­te (…) Män­ner zurück­grei­fen, wenn sie Kon­flik­te oder Aus­schlie­ßungs­si­tua­tio­nen bear­bei­ten und dabei auch noch Männ­lich­keit dar­stel­len: Wer die Ver­bin­dung von Lohn­ar­beit und Kon­sum igno­riert, wer – ohne Eigen­tum, Bezie­hun­gen oder geschick­ter Nut­zung von Netz­wer­ken – als letz­tes Macht­mit­tel Gewalt­tä­tig­kei­ten benutzt, wer sich dabei oppor­tu­ni­stisch und will­kür­lich gegen ande­re mit­tel- oder wehr­lo­se Per­so­nen wen­det oder gegen beson­ders macht­vol­le, der gibt bes­se­re ›Gele­gen­hei­ten für Anzei­gen‹ als ande­re. Es ist ziem­lich aus der Mode gekom­men, die ›Anwen­dungs­re­geln‹ für Straf­ge­set­ze zu untersuchen.«