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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Feine Unterschiede

»Jeder hat die­sel­be Mög­lich­keit, etwas aus sei­nem Leben zu machen«, meint die acht­zehn­jäh­ri­ge Anne. Sie glaubt an Chan­cen­gleich­heit bei Bil­dung oder Arbeits­mög­lich­kei­ten. Anne ist eine selbst­be­wuss­te Frau, die nach dem Abitur ein frei­wil­li­ges sozia­les Jahr im Kran­ken­haus ablei­stet. Danach wird sie, wie ihr Vater, Medi­zin studieren.

Die zehn­jäh­ri­ge Dana ist vor zwei Jah­ren mit Eltern und Geschwi­stern nach Deutsch­land gezo­gen und besucht noch die Grund­schu­le. Die Fami­lie kommt aus Rumä­ni­en und möch­te sich hier eine bes­se­re Exi­stenz auf­bau­en. Die Eltern spre­chen nur rudi­men­tär Deutsch. Die Mut­ter arbei­tet auf dem Feld. Sie hält mir eine Kar­tof­fel ent­ge­gen, um zu erklä­ren, dass sie wäh­rend der Sai­son als Ern­te­hel­fe­rin arbei­tet. Der Vater ver­dingt sich als Hilfs­ar­bei­ter auf dem Bau. Dana hat zwei Geschwi­ster. Wenn die Mut­ter auf dem Feld ist, muss sie sich um die jün­ge­re vier­jäh­ri­ge Schwe­ster küm­mern und kann dann nicht zur Schu­le gehen. Die älte­re Schwe­ster arbei­tet als Rei­ni­gungs­kraft, u. a. in einer Pizzeria.

Dana zeigt mir das Zim­mer, in dem sie mit ihren bei­den Schwe­stern wohnt. Ich stel­le mir vor, wie schwie­rig es für die Zehn­jäh­ri­ge sein muss, zwi­schen den auf dem Boden lie­gen­den drei Matrat­zen und in Anwe­sen­heit der bei­den Schwe­stern ihre Haus­auf­ga­ben zu machen. Einen Schreib­tisch suche ich ver­ge­bens. Obwohl die Eltern arbei­ten, reicht das Geld nicht für alle Schul­ma­te­ria­li­en oder für Aus­flü­ge. Oder für modi­sche­re Klei­dung. In der Schu­le erlebt Dana die ver­brei­te­ten Vor­ur­tei­le gegen Rumä­nen. Um etwas aus ihrem Leben zu machen, muss Dana deut­lich höhe­re Hür­den über­win­den als die wohl­be­hü­te­te und geför­der­te Anne. Die­se jun­ge Frau hat­te ein eige­nes Zim­mer, konn­te jeden Tag zur Schu­le gehen, an allen Aus­flü­gen teil­neh­men, ihre Freun­de nach Hau­se ein­la­den. Sie erhielt Nach­hil­fe- und Kla­vier­un­ter­richt. Ihre Eltern wis­sen um die Rele­vanz einer guten Bil­dung und haben die mate­ri­el­len und imma­te­ri­el­len Res­sour­cen, ihre Toch­ter zu fördern.

PISA- und IGLU-Stu­di­en haben seit den 2000er Jah­ren die Dis­kus­si­on über die Chan­cen­un­gleich­hei­ten im Bil­dungs­sy­stem beför­dert. Kin­der, die aus einem Aka­de­mi­ker-Haus­halt kom­men, haben deut­lich grö­ße­re Chan­cen auf den Erwerb eines hohen Bil­dungs­ab­schlus­ses als Kin­der aus Nicht­aka­de­mi­ker-Haus­hal­ten, so eines der Ergeb­nis­se die­ser Stu­di­en. Arm bleibt in der Regel arm und reich bleibt in der Regel reich, so könn­te man es kurz und knapp zusammenfassen.

Eine dif­fe­ren­zier­te Erklä­rung, wes­halb sozia­le Dis­pa­ri­tä­ten zumeist über Gene­ra­tio­nen hin­weg bestehen blei­ben, hat der fran­zö­si­sche Sozi­al­phi­lo­soph Pierre Bour­dieu erforscht. In sei­nem 1979 erschie­nen sozio­lo­gi­schen Klas­si­ker »Die fei­nen Unter­schie­de« hat er sich inten­siv mit der Repro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­hei­ten beschäf­tigt. Die Über­le­gun­gen von Bour­dieu gehen dabei über die öko­no­misch begrün­de­ten Klas­sen­ver­hält­nis­se von Karl Marx hin­aus. Auf den sozia­len Fel­dern unse­rer Gesell­schaft begrün­det sich die Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit, so Bour­dieu, zunächst durch das öko­no­mi­sche, das sozia­le und das kul­tu­rel­le Kapi­tal eines Men­schen. Gemeint sind neben finan­zi­el­ler Start­hil­fe zum Bei­spiel sozia­le Kon­tak­te in Form von Nach­hil­fe oder Arbeits- bzw. Prak­ti­kums­ge­le­gen­hei­ten: Sie sind ent­schei­dend für den Bil­dungs­er­folg oder das Erlan­gen eines attrak­ti­ven Jobs. Beson­ders wich­tig ist das kul­tu­rel­le Kapi­tal, die erlern­ten kul­tu­rel­len Wer­te: Sprach­fer­tig­kei­ten, Geschmacks­bil­dung, das Erler­nen eines Instru­ments, Besu­che von Thea­ter­auf­füh­run­gen oder welt­läu­fi­gen Restau­rants, die Umge­bung von Büchern, Benimm­re­geln – Erfah­run­gen, Fähig­kei­ten und Ver­hal­tens­wei­sen, die Kin­der aus Aka­de­mi­ker-Haus­hal­ten von klein auf vor­ge­lebt bekom­men. Ein ent­schei­den­der Vor­teil, um in einem von Aka­de­mi­kern gemach­ten System zurechtzukommen.

Eine zen­tra­le Rol­le in der Theo­rie von Bour­dieu spielt der Habi­tus, also das Auf­tre­ten, die Umgangs­for­men, die Kör­per­spra­che oder die Klei­dung. Anders aus­ge­drückt: Die all­ge­mei­ne Grund­hal­tung eines Men­schen, die Gesamt­heit sei­nes Ver­hal­tens in der sozia­len Welt. Gemeint sind sei­ne ein­ver­leib­ten Struk­tu­ren, sei­ne Nei­gun­gen und Ver­an­la­gun­gen, sei­ne Lebens­wei­se, Ein­stel­lun­gen und Wert­vor­stel­lun­gen. Der Habi­tus, so Bour­dieu, ist die »struk­tu­rier­te und struk­tu­rie­ren­de Struk­tur«. Unse­re Umwelt und die Reak­ti­on der Umwelt auf uns wer­den durch den Habi­tus geprägt. Unser Habi­tus ist ein Ergeb­nis von Sozia­li­sa­ti­on, wird unbe­wusst durch unse­re sozia­le Her­kunft oder unse­re Kul­tur geprägt. Durch sei­nen Habi­tus kann sich das Indi­vi­du­um inner­halb sei­ner Klas­se erfolg­reich bewe­gen. Gleich­zei­tig schränkt ihn sein Habi­tus jedoch ein. Der Mensch erkennt und akzep­tiert oft nur das, was er zu erken­nen gewohnt ist. Den­noch ist der Habi­tus nicht sta­tisch und darf als ein dyna­mi­sches Kon­zept ver­stan­den wer­den, wel­ches begrenzt ver­än­dert wer­den kann. Der Habi­tus oder der »Klas­sen­ha­bi­tus«, wie Bour­dieu auch sagt, ist inner­halb der glei­chen sozia­len Schicht kei­nes­wegs gleich, auch hier hängt es im Detail von »unter­schied­li­chen Posi­tio­nen« im sozia­len Raum ab und kann durch eigen­stän­di­ge Bil­dung beein­flusst werden.

In den ver­gan­ge­nen 40 Jah­ren hat sich Gesell­schaft viel­schich­tig ver­än­dert, jedoch zei­gen die Impli­ka­tio­nen aus den Lebens­wel­ten von Dana und Anna, dass die Mecha­nis­men der Repro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­hei­ten wei­ter­hin bedeu­ten­de Ele­men­te sozia­len Zusam­men­le­bens ausmachen.

Den »Malo­cher« von frü­her scheint es nicht mehr zu geben. So ist der klas­si­sche Arbei­ter, wie zum Bei­spiel der Berg­ar­bei­ter, der aus einer Arbei­ter­fa­mi­lie stammt und – genau wie sei­ne Vor­fah­ren und Nach­kom­men – ein regio­nal ver­wur­zel­tes Leben führt, quan­ti­ta­tiv betrach­tet hier­zu­lan­de viel sel­te­ner anzu­tref­fen. Aus der Arbei­ter­klas­se ist ein Milieu von Gele­gen­heits­job­bern, Sai­son­ar­bei­tern und Lei­stungs­auf­stockern gewor­den, deren Arbeit nicht mehr iden­ti­täts­stif­tend sein kann, weil sie für vie­le zu fra­gil ist. Die Situa­ti­on der spo­ra­di­schen Hilfs­ar­bei­ter, die sich regio­nal immer weni­ger ver­an­kern kön­nen, son­dern viel­mehr den Arbeits­ge­le­gen­hei­ten, die sich ihnen bie­ten, mit­samt ihren Fami­li­en hin­ter­her zie­hen müs­sen, führt dazu, dass sich räum­li­che Iden­ti­tä­ten auf­lö­sen und kul­tu­rel­le sowie sozia­le Ent­räum­li­chun­gen statt­fin­den. Die­se beein­flus­sen sozia­le, kul­tu­rel­le, öko­no­mi­sche und, dadurch bedingt, poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­ons­asym­me­trien. War­um soll­te man sich in Ver­ei­nen enga­gie­ren, poli­tisch ein­brin­gen oder das Schul­le­ben mit­ge­stal­ten, wenn einem die Per­spek­ti­ven lang­fri­stig zu ver­wei­len und ein Zuhau­se zu fin­den, ver­wehrt blei­ben? Feh­len­de Zuge­hö­rig­kei­ten bedeu­ten auch feh­len­de Anerkennung.

Die fei­nen Unter­schie­de sind heu­te viel­schich­ti­ger, aber nicht weni­ger bedeut­sam. Sozia­le Dis­pa­ri­tä­ten repro­du­zie­ren sich wei­ter­hin und auch der Zugang zu Bil­dung, Arbeit oder kul­tu­rel­len Milieus hängt immer noch vom sozia­len Hin­ter­grund ab. Dana wird sich stär­ker anstren­gen müs­sen, um einen hohen Bil­dungs­ab­schluss zu erlan­gen und eine befrie­di­gen­de Arbeit, als Anna, die von ihrer Fami­lie auf dem Weg zu einem Bil­dungs­ab­schluss unter­stützt wird und den Habi­tus der Mit­tel­schicht sozu­sa­gen mit der Mut­ter­milch auf­ge­so­gen hat.

Die Aus­sa­ge von Anne bedarf der Ergän­zung, dass zwar jeder die Mög­lich­keit hat, etwas aus sei­nem Leben zu machen, jedoch die Chan­cen dafür sehr ungleich sind. Ein erster Schritt, Chan­cen­un­gleich­hei­ten zu redu­zie­ren, ist, sich deren Exi­stenz bewusst zu wer­den. Hier kommt der poli­ti­schen Bil­dung eine tra­gen­de Rol­le zu und auch die grund­le­gen­den Über­le­gun­gen Bour­dieus kön­nen hel­fen, das Ver­ständ­nis für Par­ti­zi­pa­ti­ons­asym­me­trien in unse­rer Gesell­schaft zu för­dern. Die Auf­lö­sung von Iden­ti­täts­an­kern, die Zunah­me fra­gi­ler Lebens­for­men und die wach­sen­de Ver­ach­tung der Home­of­fice-Arbei­ter gegen­über den unge­schütz­ten Stra­ßen-Dienst­lei­stern beför­dern weit­aus stär­ker die zen­tri­fu­ga­len Kräf­te gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens als dies vor 40 Jah­ren der Fall war.