Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Traurige Kindheit

2,8 Mil­lio­nen Kin­der und Jugend­li­che bis acht­zehn Jah­ren leben in Deutsch­land in Armut. Schon die Fest­stel­lung, dass in einem der reich­sten Län­der ein erheb­li­cher Teil der jun­gen Gene­ra­ti­on in Armut auf­wächst, klagt die Regie­rungs­po­li­tik an, stellt ihre demo­kra­ti­sche Legi­ti­mi­tät in Fra­ge. Durch die Mas­se der syste­ma­tisch in Armut gedräng­ten Kin­der wer­den eben­falls die Rich­ter und Rich­te­rin­nen ange­klagt, die eigent­lich die Ver­fas­sung schüt­zen sol­len: Wie groß dür­fen Armut und Ungleich­heit noch wer­den? Wie­so fei­ert ihr den »sozia­len Rechts­staat«, statt ihn zu verwirklichen?

Seit Ende der 1990er Jah­re – der Pha­se der rot-grü­nen Koali­ti­on – ist das Armuts­ri­si­ko deut­lich gewach­sen ist. Und ist jemand in die Armut gerutscht (was ja nicht Natur­ge­wal­ten geschul­det ist), so bleibt er oder sie immer häu­fi­ger län­ger arm: Der Anteil der lang­fri­stig Armen hat sich in den letz­ten zwan­zig Jah­ren ver­dop­pelt, weist das Sta­ti­sti­sche Bun­des­amt nach. Wagt jemand noch von Chan­cen­gleich­heit zu reden, wenn ledig­lich acht Pro­zent der Kin­der, die das Gym­na­si­um besu­chen, Eltern mit einem Haupt­schul­ab­schluss haben?

2,2 Mil­lio­nen Kin­der und Jugend­li­che, gut 16 Pro­zent aller Min­der­jäh­ri­gen, leben in einer Ein-Eltern-Fami­lie – Ten­denz stei­gend. 45 Pro­zent von ihnen leben unter Hartz-IV-Bedin­gun­gen, also unter der rea­len Armuts­gren­ze. Eine täg­li­che war­me Mahl­zeit ist für sie nicht selbst­ver­ständ­lich. Die knapp tau­send Tafeln in Deutsch­land sind ursprüng­lich (ehren­amt­lich!) auf­ge­baut wor­den, um die Ärm­sten vor dem Hun­ger zu bewah­ren. Inzwi­schen sind 30 Pro­zent der »Kun­den« Kin­der und Jugend­li­che. Arme Kin­der müs­sen häu­fig auf Nach­hil­fe ver­zich­ten und gehen nicht, wie ande­re, mit neu­en Büchern, Stif­ten und Schul­ran­zen zu Schu­le. Armen Kin­dern fällt es schwe­rer, Anschluss zu fin­den. Freun­de nach Hau­se ein­la­den? Undenk­bar! Die Woh­nung ist so klein, dass die Kin­der kein eige­nes Zim­mer haben, und das Geld für Essen und Geträn­ke ist sowie­so schon knapp kal­ku­liert. Wenn sie zu Kin­der­ge­burts­ta­gen ein­ge­la­den wer­den, kön­nen sie kei­ne teu­ren Geschen­ke mit­brin­gen wie die Klas­sen­ka­me­ra­den. Arme Kin­der haben kein eige­nes Smart­phone und kön­nen kei­ne ange­sag­ten Mar­ken­kla­mot­ten tra­gen. Im Win­ter frie­ren eini­ge, weil die Eltern kei­ne war­me Klei­dung kau­fen kön­nen. Taschen­geld ist für sie nicht selbst­ver­ständ­lich, und fürs Schwimm­bad oder das Kino ist eben­falls kein Geld da. Sport im Ver­ein kostet Geld, genau­so wie der Musik­un­ter­richt. In vie­len Fäl­len haben die Eltern kein Auto und kön­nen ihre Kin­der gar nicht erst zum Trai­ning fahren.

Die Erfah­run­gen zwi­schen Man­gel und Aus­gren­zung bewir­ken bei den Kin­dern und ihren Eltern Scham, Demü­ti­gung und das Gefühl, nicht zur Gesell­schaft zu gehö­ren. Wäh­rend die mei­sten der durch Armut Aus­ge­grenz­ten mit Resi­gna­ti­on und Hoff­nungs­lo­sig­keit reagie­ren, ent­steht bei ande­ren eine unbän­di­ge Wut: »Bei jeder Klei­nig­keit werd ich immer gleich zur Bestie. In der Schu­le hab ich Pro­ble­me, sie sagen so’n Scheiß über mich oder über mei­ne Fami­lie. Ich fühl mich dann irgend­wie bedroht. Dann beschä­di­ge ich etwas, so ein­fach ohne Grund. In der Nähe der Schu­le hab ich mal mit der Faust eine Auto­schei­be eingeschlagen.«

Der 14jährige Jun­ge kann in dem Gespräch beim Jugend­amt wenig­stens beschrei­ben, was in ihm vor­geht. Ob er aber jemals ver­ste­hen wird, wodurch sei­ne Lage auf­recht­erhal­ten wird und wer das absicht­lich her­bei­führt? Die Wahr­schein­lich­keit ist grö­ßer, dass die Aus­gren­zung Angst und Wut erzeugt und das Selbst­be­wusst­sein unter­höhlt. Das Gefühl schafft es nicht mehr, Herr über das eige­ne Schick­sal zu sein. Eine Lebens­la­ge, die Men­schen als Gewalt erle­ben, auf die sie ent­spre­chend reagieren.

»Das größ­te Risi­ko für die kör­per­li­che und see­li­sche Ent­wick­lung von Kin­dern ist Armut«, stell­te schon vor vie­len Jah­ren eine Lang­zeit­stu­die des Zen­tral­in­sti­tuts für see­li­sche Gesund­heit Mann­heim fest. Gesell­schaft­li­cher Zusam­men­halt wird durch Ungleich­heit zer­stört. Armut ist struk­tu­rel­le Gewalt und der neo­li­be­ral radi­ka­li­sier­te Kapi­ta­lis­mus arbei­tet mit den­sel­ben men­schen­ver­ach­ten­den Prin­zi­pi­en der Ungleich­wer­tig­keit von Men­schen wie der gemei­ne Ras­sis­mus: Ange­klagt und der Ver­ach­tung und Abwer­tung preis­ge­ge­ben wer­den die Opfer; die Ver­ur­sa­cher gel­ten als Stüt­zen der Gesellschaft.

Wie­so wagt es die Regie­rungs­po­li­tik seit Jahr­zehn­ten, sol­che Ver­hält­nis­se, die sie mit ihren aso­zia­len Geset­zen zur Steu­er-, Arbeits­markt- und Sozi­al­po­li­tik selbst schafft, als sozi­al anzu­prei­sen? Was soll dar­an demo­kra­tisch sein, wenn sich seit Jahr­zehn­ten eine gro­ße Mehr­heit der Bevöl­ke­rung gegen die wach­sen­de Ungleich­heit bei Ein­kom­men und Ver­mö­gen aus­spricht – und die Regie­rungs­par­tei­en machen das genaue Gegen­teil? Laut einem »Ungleich­heits­ba­ro­me­ter« der Uni Kon­stanz und einer Ber­li­ner Denk­fa­brik wol­len 77 Pro­zent der Befrag­ten eine mehr ega­li­tä­re Gesell­schaft. Dabei unter­schät­zen die mei­sten das Aus­maß der sozia­len Ungleich­heit sogar. Ein Drit­tel der Befrag­ten ist im Ver­gleich zu den Eltern sozi­al abge­stie­gen. Sozi­al­dar­wi­ni­sti­sche Wett­be­werbs­ver­lu­ste, die die Bun­des­re­gie­run­gen als west­li­chen Wert verkaufen.