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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Philosophien der Gerechtigkeit

Was ist Gerech­tig­keit? Was ist sozia­le Gerech­tig­keit? Seit 2500 Jah­ren suchen auch Phi­lo­so­phen nach Antworten.

Erste Erklä­run­gen grif­fen auf meta­phy­si­sche Begrün­dun­gen zurück: Gerech­tig­keit wur­de als eine in der Natur vor­han­de­ne Ord­nung ver­stan­den oder als gött­li­chen Ursprungs. Ein auf­fal­len­der Unter­schied bestand dabei zwi­schen den frü­hen ägyp­ti­schen und assy­ri­schen Hoch­kul­tu­ren, für die sich die Gerech­tig­keit von einer gött­li­chen Welt­ord­nung her­lei­te­te, und dem Grie­chen­land der archai­schen Zeit von etwa 800 bis 500 vor Chri­stus. Denn die Göt­ter in den frü­hen grie­chi­schen Epen wie der Odys­see han­del­ten kei­nes­wegs nach einem absichts­vol­len und klu­gen Gesamt­plan, son­dern grif­fen – nicht zuletzt aus Eigen­in­ter­es­se – je nach Situa­ti­on und Lau­ne zu Gun­sten oder Ungun­sten der Men­schen ins Welt­ge­sche­hen ein.

Die phi­lo­so­phi­sche Aus­ein­an­der­set­zung der Grie­chen mit der Fra­ge der Gerech­tig­keit setz­te im fünf­ten Jahr­hun­dert vor Chri­stus mit den Sophi­sten ein, einer Grup­pe von Phi­lo­so­phen, denen es um die Bedin­gun­gen für ein erfolg­rei­ches Leben ging. Sie ver­nein­ten objek­ti­ve Maß­stä­be für Wahr­heit und Gerech­tig­keit, rück­ten aber den Men­schen, sei­ne Ethik und sei­ne Erkennt­nis­mög­lich­kei­ten ins Zen­trum ihrer Betrach­tun­gen. Gerech­tig­keit wur­de in der grie­chi­schen Anti­ke nicht in Geset­zes­nor­men gefasst oder an vor­han­de­nen Rechts­nor­men gemes­sen, son­dern als Aus­druck einer per­sön­li­chen Lebens­hal­tung betrachtet.

Für ande­re Phi­lo­so­phen der grie­chi­schen Anti­ke, für Pla­ton oder für sei­nen Schü­ler Ari­sto­te­les (384-322 v. Chr.), war nur ein gerech­ter Mensch ein glück­li­cher Mensch. Und Gerech­tig­keit die ober­ste Tugend. Ari­sto­te­les dif­fe­ren­zier­te dabei, wie Pla­ton, zwi­schen zwei Arten von Gerech­tig­keit oder Gleich­heit im Zusam­men­le­ben der Men­schen: Da ist erstens die rein zah­len­ori­en­tier­te, arith­me­ti­sche Gleich­heit etwa unter Geschäfts­part­nern, von denen der eine dem ande­ren für ein über­las­se­nes Gut einen ent­spre­chen­den Wert schul­det. Oder die Pflicht eines Schä­di­gers, exakt für den ver­ur­sach­ten Scha­den auf­zu­kom­men. Und da ist zwei­tens die qua­li­ta­ti­ve Gleich­heit, die bei der Ver­tei­lung von Gütern und Ämtern aus­schlag­ge­bend ist. Nach Ansicht von Ari­sto­te­les und auch Pla­ton steht dem­je­ni­gen mehr zu, des­sen all­ge­mei­ne Ver­dien­ste grö­ßer sind.

Erst in der römi­schen Gesell­schaft bil­de­ten sich die kodi­fi­zier­ten Rechts­vor­schrif­ten stär­ker aus. Gerech­tig­keit wur­de zwar immer noch mit einer per­sön­li­chen Hal­tung ver­bun­den, war aber zum Bei­spiel bei Cice­ro (106-43 v. Chr.) schon an der gesell­schaft­li­chen Ord­nung ori­en­tiert. Der römi­sche Rechts­ge­lehr­te Ulpian (170-223) for­mu­lier­te drei Grund­sät­ze des Rechts: »Lebe ehren­haft! Tue nie­man­dem Unrecht! Gib jedem das Sei­ne!« Grund­sät­ze, die sich auch am Anfang des Cor­pus Juris Civi­lis, der Rechts­samm­lung des Kai­sers Justi­ni­an (527 – 565) finden.

Noch in der Spät­an­ti­ke und im Mit­tel­al­ter hat­te die pla­to­ni­sche Gerech­tig­keits­kon­zep­ti­on eini­gen Ein­fluss. Pla­tons Vor­stel­lung von der gerech­ten See­le für einen gerech­ten Staat fin­det sich bei dem Neu­pla­to­ni­sten Plo­tin (um 205-270) eben­so wie­der wie beim Kir­chen­va­ter Augu­sti­nus (354-430). Aller­dings unter­schie­den bei­de zwi­schen einer noch unvoll­kom­me­nen Gerech­tig­keit auf Erden und einer höhe­ren, wah­ren, eben himm­li­schen Gerech­tig­keit. Der Grund für den unvoll­kom­me­nen Cha­rak­ter der Tugen­den unter irdi­schen Bedin­gun­gen lag Augu­sti­nus zufol­ge in der Erb­sün­de der Men­schen. Ent­spre­chend war in sei­nen Augen die wah­re Gerech­tig­keit von Got­tes Gna­de abhängig.

Mit­tel­al­ter­li­ches Den­ken ist christ­li­ches Den­ken. Behaup­tet wird ein ein­zi­ges über­ge­ord­ne­tes Prin­zip, dem alles unter­tan ist – der christ­li­che Gott. Die­ser ist unend­lich und voll­kom­men, mensch­li­ches Den­ken dage­gen end­lich und fehl­bar. Im Mit­tel­al­ter sind nicht Ver­stand oder Ver­nunft das Maß der Din­ge, son­dern der Glau­be. Für die Phi­lo­so­phie ist das kei­ne gute Zeit, sie muss sich der Theo­lo­gie unter­ord­nen. Die »Wahr­heit« bleibt der Reli­gi­on vor­be­hal­ten. Der Mensch, so die den Men­schen kne­beln­de und unter­drücken­de Behaup­tung, kön­ne Gerech­tig­keit nur durch die Gna­de Got­tes erlan­gen. Doch über Gerech­tig­keit und Gna­de ent­schie­den allein die selbst­er­nann­ten und macht­be­ses­se­nen Ver­tre­ter Got­tes auf Erden.

Mit der Neu­zeit wuchs die Skep­sis unter den Phi­lo­so­phen, ob der Mensch über­haupt dar­an inter­es­siert sei, sich sei­nem Näch­sten gegen­über gerecht zu ver­hal­ten. Das Gegen­teil sei der Fall, stell­te der Eng­län­der Tho­mas Hob­bes (1588-1679) fest, der dem neu­en, an Erfah­run­gen ori­en­tier­ten Den­ken ver­pflich­tet war: »Der Mensch ist dem Men­schen Wolf«, so Hob­bes, und der »Krieg aller gegen alle« sei der natür­li­che Zustand unter den Men­schen. Sie besä­ßen kei­nen frei­en Wil­len und sei­en von ihrem ego­isti­schen Selbst­er­hal­tungs­trieb beherrscht. Um der dar­aus resul­tie­ren­den Unsi­cher­heit und Gewalt ein Ende zu berei­ten, müs­sen die Men­schen, nach Ansicht Hob­bes, ihre Gewalt gemein­schaft­lich einem Staat über­tra­gen, mit des­sen Rechts­ord­nung über­haupt erst Gerech­tig­keit für den Men­schen eta­bliert wer­den kann.

Eine Idee, die schon Tho­mas Morus hat­te. 1516 schrieb der eng­li­sche Staats­mann sein Werk »Uto­pia«. Die dra­ma­ti­schen sozia­len und poli­ti­schen Ver­hält­nis­se, die Armut und die gewalt­tä­ti­ge Will­kür der Herr­schen­den waren Morus’ wesent­li­cher Beweg­grund für das Ver­fas­sen sei­ner Sozi­al­uto­pie, in der er eine idea­le Gesell­schaft, einen idea­len gerech­ten Staat ent­wickelt, in dem die »Gerech­tig­keit« jedoch mit tota­li­tä­ren Metho­den durch­ge­setzt wird.

Auch der Schwei­zer Phi­lo­soph Jean-Jac­ques Rous­se­au (1712-1778) schlug einen »Gesell­schafts­ver­trag« vor. Doch anders als für Hob­bes, der im Staat vor allem auch einen Garan­ten für den Rechts­schutz des indi­vi­du­el­len Eigen­tums sah, war für Rous­se­au der Pri­vat­be­sitz die Wur­zel mensch­li­chen Übels. Vom Moment der ersten Besitz­nah­me an, so Rous­se­au, gehe die Ent­wick­lung der Gesell­schaft weg von einem nahe­zu para­die­si­schen, vor­zi­vi­li­sa­to­ri­schen Natur­zu­stand hin zu einer staat­lich geschütz­ten Herr­schaft der Rei­chen über die Armen. Für einen gerech­ten Staat bedür­fe es eines »Gesell­schafts­ver­trags«, der durch die freie Über­ein­kunft aller Bür­ger ent­ste­he. Durch den Ver­trag unter­stell­ten sich die Bür­ger dem gemein­sa­men Wil­len ihrer Mehr­heit, dem Gemein­wil­len, der die Grund­la­ge für ihre Geset­ze sein müs­se. Tat­säch­lich ent­stan­den in der Fol­ge von Hob­bes oder Rous­se­au neue Kon­zep­te für Gesell­schafts­ver­trä­ge, die zum Bei­spiel auch die Ver­fas­sung der USA prägten.

Eben­falls im 18. Jahr­hun­dert ent­wickel­te Imma­nu­el Kant (1724-1804) die Idee des Ver­nunft­rechts. Und anknüp­fend an den schot­ti­schen Phi­lo­so­phen David Hume, einen Zeit­ge­nos­sen von Kant, ent­stand im eng­lisch­spra­chi­gen Raum der Uti­li­ta­ris­mus als domi­nie­ren­des ethi­sches Prin­zip. Ihr wich­tig­ster Ver­tre­ter war der Sozi­al­re­for­mer Jere­my Bent­ham: Moral bestand für ihn in der Suche nach dem größt­mög­li­chen indi­vi­du­el­len Glück für alle. In die­sem Sin­ne, im Sin­ne des gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Nut­zens, plä­dier­te er für eine all­ge­mei­ne Wohl­fahrt. Uti­li­ta­ri­sti­sche Hand­lun­gen sei­en sol­che, die das Gesamt­wohl einer Gesell­schaft erhö­hen, also für alle oder min­de­stens vie­le das Glück meh­ren. Gerech­tig­keit wur­de (wie­der) nur als Rah­men­be­din­gung verstanden.

Die Erkennt­nis, dass Gerech­tig­keit eben nicht aus einem höhe­ren Prin­zip abzu­lei­ten, son­dern eine ganz kon­kre­te Über­le­bens-Fra­ge ist, führ­te ab dem 19. Jahr­hun­dert end­lich – von Karl Marx über Fried­rich Nietz­sche und Wal­ter Ben­ja­min bis hin zu Jac­ques Der­ri­da – zu einer mas­si­ven Kri­tik an den bür­ger­lich-libe­ra­len Gerech­tig­keits­auf­fas­sun­gen. Karl Marx (1818-1883) war nach Morus und Rous­se­au der erste poli­ti­sche Theo­re­ti­ker, der (als Reak­ti­on auf die Eska­la­ti­on der sozia­len Kon­flik­te im Zeit­al­ter der indu­stri­el­len Revo­lu­ti­on) das »Sozia­le« im enge­ren Sin­ne, also die Besei­ti­gung öko­no­misch-sozia­ler Ungleich­heit und die Befrei­ung von Unter­drückung und Armut, ins Zen­trum sei­nes Den­kens stell­te. Erst seit Marx ent­spricht der Begriff der »sozia­len Gerech­tig­keit« in etwa dem, was wir heu­te dar­un­ter verstehen.