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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Asyl

Die 1871 gebo­re­ne Sozia­li­stin Rosa Luxem­burg schil­dert in ihrer Repor­ta­ge »Im Asyl« das Leben und Ster­ben in einem Ber­li­ner Obdach­lo­sen­asyl. Kurz vor dem Jah­res­wech­sel 1911, am 27. Dezem­ber, kam es im Städ­ti­schen Obdach an der Frö­bel­stra­ße (im Volks­mund wegen einer Topf­pflan­ze im Vor­raum spöt­tisch »Pal­me« genannt) zu einer mas­sen­haf­ten Lebens­mit­tel­ver­gif­tung mit über 70 Toten. Seit sei­ner Eröff­nung 1895 nahm das Obdach­lo­sen­asyl täg­lich bis zu 5000 Men­schen auf, von 16 Uhr am Nach­mit­tag bis 2 Uhr in der Nacht. Die Ent­las­sung erfolg­te um 6 Uhr am Mor­gen. Jene »Schiff­brü­chi­gen des Schick­sals« aber, so der Ber­li­ner Lokal-Anzei­ger, die das Back­stein­haus im Nord­osten Ber­lins öfter als fünf­mal hin­ter­ein­an­der auf­such­ten, muss­ten damit rech­nen, der im Haus sta­tio­nier­ten Poli­zei vor­ge­führt zu wer­den, um dann ins berüch­tig­te Rum­mels­bur­ger Arbeits­haus ver­bracht zu wer­den. Dar­an jedoch war an jenem Mor­gen nicht zu den­ken. Wie der kai­ser­treue Lokal-Anzei­ger schreibt, habe sich von Stun­de zu Stun­de eine immer grö­ße­re Unru­he der »Asy­l­i­sten« bemäch­tigt, »als sie sahen, dass fort­ge­setzt bald in die­sem, bald in jenem Saal Neu­erkrank­te zusam­men­bra­chen und fort­ge­schafft wur­den«. Vie­le hät­ten das Gebäu­de noch in der Nacht ver­las­sen wol­len. »Eine Bit­te, die ja schon aus sani­tä­ren Grün­den nicht erfüllt wer­den konn­te.«

Wegen der ver­mu­te­ten Seu­chen­ge­fahr wur­den wahr­schein­lich eini­ge Tau­send Obdach­lo­se den fol­gen­den Tag über in dem Gebäu­de fest­ge­hal­ten, der­weil sich drau­ßen das bür­ger­li­che Publi­kum ein­fand. Doch: »Eine Anzahl Schutz­leu­te patrouil­lier­te die Stra­ße auf und ab und sorg­te dafür, dass kei­ne Ansamm­lun­gen statt­fan­den. Die Men­ge besprach im Flü­ster­ton die geheim­nis­vol­len Erkran­kun­gen.« Ein Kran­ken­wa­gen sei vor das Por­tal gerollt, »rasch öff­ne­te sich die schwe­re Tür, her­aus tra­ten in wei­ße Kit­tel geklei­de­te Män­ner, die einen schwe­ren in Tücher gehüll­ten Gegen­stand tru­gen, ihn in den Wagen bet­te­ten, der dann rasch davon fuhr«. Dies habe sich meh­re­re Male wie­der­holt und die Men­ge habe gewusst: Wie­der sei ein Kran­ker oder Toter davon­ge­fah­ren worden.

Hier der Text von Rosa Luxem­burg, erschie­nen in der Gleich­heit, der von Cla­ra Zet­kin redi­gier­ten Frauenzeitschrift:

 

Unse­re Reichs­haupt­stadt ist in ihrer Fei­er­tags­stim­mung grau­sam gestört wor­den. Gera­de hat­ten from­me Gemü­ter das schö­ne alte Lied ange­stimmt: O du fröh­li­che, o du seli­ge, gna­den­brin­gen­de Weih­nachts­zeit! als sich die Nach­richt ver­brei­te­te, daß im städ­ti­schen Asyl für Obdach­lo­se eine Mas­sen­ver­gif­tung vor­ge­kom­men war. Alte und Jun­ge fie­len ihr zum Opfer: Hand­lungs­ge­hil­fe Joseph Gei­he, 21 Jah­re alt, Arbei­ter Karl Mel­chi­or, 47 Jah­re alt, Luci­an Szc­zyp­tie­row­ski, 65 Jah­re alt – jeden Tag kamen neue Listen der ver­gif­te­ten Obdach­lo­sen. Der Tod fand sie über­all: im Asyl, im Gefäng­nis, in der Wär­me­hal­le oder ein­fach auf der Stra­ße, in einer Scheu­ne ver­kro­chen. Bevor das neue Jahr mit Glocken­ge­läu­te ein­ge­zo­gen war, wan­den sich andert­halb­hu­n­dert Obdach­lo­se in Todes­schmer­zen, hat­ten sieb­zig das Zeit­li­che gesegnet.

Meh­re­re Tage lang stand das schlich­te Gebäu­de in der Frö­bel­stra­ße, das sonst jeder ger­ne mei­det, im Mit­tel­punkt des all­ge­mei­nen Inter­es­ses. Woher kamen die Mas­sen­er­kran­kun­gen? War es eine Epi­de­mie, war es eine Ver­gif­tung durch den Genuß fau­ler Spei­se? Die Poli­zei­be­hör­den beeil­ten sich, die gute Bür­ger­schaft zu beru­hi­gen: Es war kei­ne anstecken­de Krank­heit, das heißt, es lag kei­ne Gefahr vor für die anstän­di­ge Ein­woh­ner­schaft, für die bes­se­ren Leu­te in der Stadt. Der Mas­sen­tod blieb nur auf die ›Asy­l­i­sten­krei­se‹ beschränkt, auf die Leu­te, die sich den Genuß ›sehr bil­li­ger‹, stin­ken­der Bück­lin­ge oder gif­ti­gen Fusels zu Weih­nach­ten gelei­stet hat­ten. Woher hat­ten die Leu­te aber jene stin­ken­den Bück­lin­ge genom­men? Hat­ten sie sie von einem ›flie­gen­den Fisch­händ­ler‹ gekauft oder aus dem Keh­richt in der Markt­hal­le auf­ge­le­sen? Letz­te­re Mut­ma­ßung wur­de abge­lehnt aus einem gewich­ti­gen Grun­de: Der Abfall in den städ­ti­schen Markt­hal­len ist nicht wie sich ober­fläch­li­che und natio­nal­öko­no­misch unge­bil­de­te Leu­te vor­stel­len, her­ren­lo­ses Gut, das sich der erste beste Obdach­lo­se aneig­nen dürf­te. Die­ser Abfall wird gesam­melt und an gro­ße Schwei­ne­mä­ste­rei­en ver­kauft, wo er, erst sorg­fäl­tig des­in­fi­ziert und ver­mah­len, als Fut­ter für die Schwei­ne dient. Wach­sa­me Orga­ne der Markt­hal­len­po­li­zei sor­gen dafür, daß mensch­li­ches Gesin­del hier nicht den Schwei­nen ihr Fut­ter unbe­fug­ter­wei­se weg­schnappt, um es undes­in­fi­ziert und unver­mah­len zu ver­schlin­gen. Die Obdach­lo­sen konn­ten also unmög­lich, wie sich man­cher das so leicht denkt, ihren Weih­nachts­schmaus aus dem Keh­richt der Markt­hal­le auf­ge­le­sen haben. Die Poli­zei fahn­det dem­nach nach dem ›flie­gen­den Fisch­händ­ler‹ oder dem Budi­ker, der den Obdach­lo­sen den Gift­fu­sel ver­kauft hat. ( … )

Wer sind die Bewoh­ner des Asyls, die dem fau­len Bück­ling oder dem gif­ti­gen Fusel zum Opfer fie­len? Ein Hand­lungs­ge­hil­fe, ein Bau­tech­ni­ker, ein Dre­her, ein Schlos­ser – Arbei­ter, Arbei­ter, lau­ter Arbei­ter. Und wer sind die Namen­lo­sen, die von der Poli­zei nicht reko­gnos­ziert wer­den konn­ten? Arbei­ter, lau­ter Arbei­ter oder sol­che, die es noch gestern waren.

Und kein Arbei­ter ist vor dem Asyl, vor dem ver­gif­te­ten Bück­ling und Fusel gesi­chert. Heu­te noch rüstig, ehr­bar, flei­ßig – was wird aus ihm, wenn er mor­gen ent­las­sen ist, weil er die fata­le Gren­ze der vier­zig Jah­re erreicht hat, bei der ihn der Unter­neh­mer für ›unbrauch­bar‹ erklärt? Was, wenn er mor­gen einen Unfall erlei­det, der ihn zum Krüp­pel, zum Ren­ten­bett­ler macht?

Man sagt: Zum gro­ßen Teil ver­fal­len dem Armen­haus und dem Gefäng­nis nur schwa­che und schlech­te Ele­men­te: schwach­sin­ni­ge Grei­se, jugend­li­che Ver­bre­cher, abnorm ver­an­lag­te Men­schen mit ver­min­der­ter Zurech­nungs­fä­hig­keit. Mag stim­men. Aber schwa­che und schlech­te Natu­ren aus höhe­ren Klas­sen kom­men nicht ins Asyl, son­dern in Sanatorien. (…)

Luci­an Szc­zyp­tie­row­ski, der auf der Stra­ße endet, ver­gif­tet vom fau­len Bück­ling, gehört eben­so zum Dasein des Pro­le­ta­ri­ats wie jeder qua­li­fi­zier­te, best­be­zahl­te Arbei­ter, der sich gedruck­te Neu­jahrs­kar­ten und eine ver­gol­de­te Uhr­ket­te lei­stet. Das Asyl für Obdach­lo­se und der Poli­zei­ge­wahr­sam sind eben­so Säu­len der heu­ti­gen Gesell­schaft wie das Reichs­kanz­ler­pa­lais und die Deut­sche Bank. Und der ver­gif­te­te Bück­lings­schmaus mit Fusel im städ­ti­schen Obdach ist die unsicht­ba­re Unter­la­ge für den Kavi­ar und den Cham­pa­gner auf dem Tische der Mil­lio­nä­re. Die Her­ren Gehei­men Medi­zi­nal­rä­te kön­nen lan­ge den Todes­keim in den Gedär­men der Ver­gif­te­ten durch das Mikro­skop suchen und ›Rein­kul­tu­ren‹ züch­ten: Der wirk­li­che Gift­ba­zil­lus, an dem die Ber­li­ner Asy­l­i­sten gestor­ben sind, heißt – kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schafts­ord­nung in Reinkultur.

Jeden Tag ster­ben ein­zel­ne Obdach­lo­se, bre­chen vor Hun­ger und Käl­te zusam­men – kein Mensch nimmt von ihnen Notiz, bloß der Poli­zei­be­richt. Nur die Mas­sen­haf­tig­keit der Erschei­nung erreg­te dies­mal in Ber­lin das gro­ße Auf­se­hen. Nur als Mas­se, das Elend zuhauf getra­gen, ver­mag der Pro­le­ta­ri­er die Gesell­schaft zur Auf­merk­sam­keit für sich zu zwin­gen. Selbst der Letz­te, der Obdach­lo­se wird als Mas­se, und sei es bloß als Hau­fe von Lei­chen, zu einer öffent­li­chen Größe!

Gewöhn­lich ist ein Leich­nam ein stum­mes, unan­sehn­li­ches Ding. Es gibt aber Lei­chen, die lau­ter reden als Posau­nen und hel­ler leuch­ten als Fackeln. Nach dem Bar­ri­ka­den­kampf am 18. März 1848 hoben die Ber­li­ner Arbei­ter die Lei­chen der Gefal­le­nen in die Höhe, tru­gen sie vor das Königs­schloß und zwan­gen den Des­po­tis­mus, vor den Opfern das Haupt zu ent­blö­ßen. Jetzt gilt es, die Lei­chen der ver­gif­te­ten Obdach­lo­sen in Ber­lin, die Fleisch von unse­rem Fleisch und Blut von unse­rem Blut sind, auf Mil­lio­nen Pro­le­ta­ri­er­hän­den empor­zu­he­ben und ins neue Jahr des Kamp­fes zu tra­gen mit dem Rufe: Nie­der mit der infa­men Gesell­schafts­ord­nung, die sol­che Greu­el gebiert!

Der Text von Rosa Luxem­burg fin­det sich in dem Kata­log zur Aus­stel­lung »Wohnsitz:Nirgendwo. Vom Leben und vom Über­le­ben auf der Stra­ße«, 1982, her­aus­ge­ge­ben vom Künst­ler­haus Betha­ni­en. Danke!