Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Zum Schluss: Es reicht!

Der chi­ne­si­sche Außen­mi­ni­ster ermahn­te Deutsch­land, die Men­schen­rech­te ein­zu­hal­ten. Kin­der, Fami­li­en und alte Men­schen wür­den durch staat­li­che Maß­nah­men syste­ma­tisch in Armut gedrängt und benach­tei­ligt. Damit beschrän­ke man sie ihrer wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Rech­te, die für ihre Wür­de und die freie Ent­fal­tung ihrer Per­sön­lich­keit unent­behr­lich sind, zitier­te der Mini­ster den Arti­kel 22 der Men­schen­rech­te. Gleich­zei­tig kün­dig­te er Wirt­schafts­sank­tio­nen gegen die EU an: Durch ein mili­ta­ri­sier­tes Grenz­re­gime gegen Flücht­lin­ge aus armen, kriegs­zer­stör­ten Län­dern habe sie das Völ­ker­recht ver­letzt und gegen den Arti­kel 14 der Men­schen­rech­te ver­sto­ßen; die Maß­nah­men hät­ten bereits zehn­tau­sen­de Men­schen­le­ben gekostet.

Die Mel­dung ist natür­lich Fake – mit einer kri­ti­schen Spit­ze: Unge­rech­te sozia­le Ver­hält­nis­se gel­ten hier­zu­lan­de nicht als Ver­let­zung der Grund- und Men­schen­rech­te. Und Ermah­nun­gen, Sank­tio­nen und mili­tä­ri­sche Inter­ven­tio­nen ste­hen nur uns, den Guten, mit unse­rer mora­li­schen Über­le­gen­heit zu.

Deut­sche Poli­tik hat erfolg­reich dar­auf hin­ge­ar­bei­tet, die Klas­sen­ge­sell­schaft als etwas Nor­ma­les und Selbst­ver­ständ­li­ches erschei­nen zu las­sen: Die Men­schen gewöh­nen sich all­mäh­lich dar­an, dass wach­sen­de Armut und Ungleich­heit die Ver­hält­nis­se ver­gif­ten. Der sozia­le Ort der Geburt bestimmt weit­ge­hend über den Lebens­weg – ein Aus­druck feu­da­ler Ver­hält­nis­se. Die Bun­des­re­gie­run­gen aus CDU/​CSU, SPD, FDP und Grü­nen haben die sozia­le Kluft nicht ein­mal als ände­rungs­be­dürf­tig behan­delt – im Gegen­teil. Die Armut von Fami­li­en, Kin­dern und alten Men­schen wur­de poli­tisch geschaf­fen, wäh­rend zahl­rei­che Mini­ster, Wis­sen­schaft­ler, Medi­en und Lob­by­or­ga­ni­sa­tio­nen der Öffent­lich­keit und den Betrof­fe­nen ein­re­de­ten, die­se sei­en selbst schuld an ihrem Schick­sal. Die Demo­kra­tie wur­de in eine markt­kon­for­me Ver­an­stal­tung zur Legi­ti­ma­ti­on und Auf­recht­erhal­tung unde­mo­kra­ti­scher Macht- und Besitz­ver­hält­nis­se ver­wan­delt. Gro­ße Tei­le der Medi­en ver­hal­fen der Bevöl­ke­rung dazu, die­se Zustän­de als alter­na­tiv­los und unab­än­der­lich hinzunehmen.

Die Fak­ten sind bekannt. Wir wis­sen, dass eine seit Jahr­zehn­ten wach­sen­de Kin­der­ar­mut dafür sorgt, dass etwa ein Vier­tel der jun­gen Gene­ra­ti­on ihrer Grund- und Men­schen­rech­te beraubt wird, denn für sie gel­ten vie­le die­ser für ande­re selbst­ver­ständ­li­chen Rech­te nur auf dem Papier. Wir wis­sen, dass Geset­ze dafür gemacht wer­den, dass ein wach­sen­des Heer von Fami­li­en und Allein­er­zie­hen­den in der Angst lebt, sich nicht ein­mal lebens­not­wen­di­ge Güter lei­sten zu kön­nen. Die betrof­fe­nen Men­schen spü­ren die Ver­ach­tung: Sie wer­den nicht als gleich­wer­tig behan­delt. Geset­ze sor­gen für Reich­tum und Macht bei weni­gen, für Armut und Ohn­macht bei vielen.

Die Hartz-Geset­ze haben die Armut sprung­haft anstei­gen las­sen. Arbeits­markt­ge­set­ze sor­gen dafür, dass Nied­rig­löh­ne nicht zum Über­le­ben rei­chen, schon gar nicht im Alter. Mehr­mals hat das zustän­di­ge Mini­ste­ri­um Anfra­gen der Links­par­tei in dem Sinn beant­wor­tet, dass jemand, der oder die 45 Jah­re lang voll arbei­tet, knapp 13 Euro pro Stun­de ver­die­nen muss, um auf die Grund­si­che­rung im Alter zu kom­men. Der Min­dest­lohn beträgt aber 9,60 Euro. (Und auch die ange­kün­dig­te schritt­wei­se Erhö­hung auf 10,45 Euro ab dem 1. Juli 2022 ist weit von den 13 Euro ent­fernt.) Ver­wun­der­lich ist also nicht die wach­sen­de Alters­ar­mut, son­dern die geheu­chel­te Bestür­zung über die­se Ent­wick­lung. Aber arme Alte ster­ben ohne­hin acht bis zehn Jah­re frü­her als die Wohl­ha­ben­den; die Ren­ten­pha­se erle­ben sie nur kurz. Auch eine den Bedürf­nis­sen ent­spre­chen­de bezahl­ba­re Woh­nung ist für immer weni­ger Men­schen selbst­ver­ständ­lich, viel­mehr ein sel­te­ner Glücks­fall. Eine Daseins­vor­sor­ge, die mensch­li­chen Grund­be­dürf­nis­sen gerecht wird? Alle wis­sen, dass die Regie­rungs­po­li­tik ent­ge­gen­ge­setz­te Prio­ri­tä­ten setzt: Sie ver­schenkt die Grund­ver­sor­gung zur Pro­fit­ma­xi­mie­rung an poten­te Inve­sto­ren. Hun­dert­tau­sen­de Woh­nun­gen im Besitz von Spe­ku­lan­ten, die Gesund­heit eine Ware, Alten­hei­me in der Hand von bör­sen­no­tier­ten Unter­neh­men; eine Steu­er­po­li­tik, die den Rei­chen rie­si­ge Mil­li­ar­den­be­trä­ge zuschanzt; Ban­ken, denen Geset­ze voll­kom­men egal sind. Die Macht­eli­te behan­delt Demo­kra­tie und Geset­ze als lästi­ges Übel.

Armut und Reich­tum wer­den zwar regie­rungs­amt­lich bilan­ziert, wenn auch ent­schärft und beschö­nigt. Seit Jahr­zehn­ten ver­fol­gen Inter­es­sier­te die Sta­ti­sti­ken zur Kin­der­ar­mut, ein­schließ­lich dar­aus erwach­sen­der Unge­rech­tig­kei­ten und Schä­den. Alle ken­nen die Not von Flücht­lin­gen und von Arbei­te­rin­nen und Arbei­tern in Fleisch­kon­zer­nen oder auf den Spar­gel­fel­dern. Aber die weni­gen Medi­en und Par­tei­en, die die Ursa­chen von Armut und Ungleich­heit, Natur­zer­stö­rung und kriegs­för­dern­der Mili­ta­ri­sie­rung ana­ly­sie­ren und benen­nen, wer­den gern vom Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­tet. Denn ihr Tun gefähr­de angeb­lich das Staats­wohl. Wenn über­haupt, bekommt ein Armuts­for­scher wie Chri­stoph But­ter­weg­ge oder ein Ver­bands­vor­sit­zen­der wie Ulrich Schnei­der vom Pari­tä­ti­schen Gesamt­ver­band ab und zu einen Platz in einer der staats­tra­gen­den Talkshows.

Natür­lich kennt die Bun­des­re­gie­rung die zen­tra­len For­de­run­gen für sozia­le Gerech­tig­keit – Stich­wor­te: Ver­mö­gen­steu­er, Erb­schafts­steu­er, exi­stenz­si­chern­der Lohn, Abschaf­fung der Hartz-Geset­ze, Bekämp­fung der aso­zia­len Steu­er­flucht und -ver­mei­dung, Stär­kung der staat­li­chen Ren­te. Nichts davon konn­te in jahr­zehn­te­lan­gen Kämp­fen durch­ge­setzt wer­den oder nur in homöo­pa­thi­schen Dosen, um Revol­ten wie in Frank­reich oder hilf­lo­sen Pro­te­sten an der Wahl­ur­ne vor­zu­beu­gen. Statt Sozi­al­staat erle­ben wir eine Poli­tik, die die Gesell­schaft zer­reißt; die Zahl der Men­schen, die sich abge­hängt, aus­ge­grenzt und ver­ach­tet füh­len, wird immer größer.

Wer dar­auf ver­traut hat­te, das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt wür­de die Regie­rung dazu anhal­ten, den sozia­len Rechts­staat zu ver­wirk­li­chen, also für ange­mes­se­nen sozia­len Aus­gleich und für die fak­ti­sche Gel­tung der Grund­rech­te für alle zu sor­gen, der schaue sich das Grund­satz­ur­teil zu Hartz IV von 2010 an. Für die Betrof­fe­nen brach­te es kei­ner­lei Ver­bes­se­run­gen. Als der Autor sich mit der Fra­ge an einen Pro­fes­sor der Bun­des­wehr­uni­ver­si­tät wand­te, wie man den sozia­len Rechts­staat ein­kla­gen könn­te, kam die ernüch­tern­de Ant­wort: »Glau­ben Sie denn wirk­lich, dass ein glo­ba­ler Kapi­ta­lis­mus sich von der Nor­ma­ti­vi­tät einer natio­na­len Ver­fas­sung auch nur irri­tie­ren las­sen wür­de? (…) Nein, gegen die­sen Geg­ner wird Ihnen eine Ver­fas­sung kei­ne beson­ders hilf­rei­che Bun­des­ge­nos­sin sein kön­nen.« Die Wut über all die Abzocke der Macht­eli­te kor­re­spon­diert mit der Ohn­macht der Men­schen, an die­sen Ver­hält­nis­sen etwas zu ändern.

Der Bun­des­re­gie­rung sind Kin­der- und Alters­ar­mut allen­falls lästig, weil sie ihr Image als Ver­tre­tung der Inter­es­sen der Bevöl­ke­rung ankratzt. Der Staat sorgt real als »ideel­ler Gesamt­ka­pi­ta­list« für die Sei­nen – und das sind nun mal nicht die pre­kär Beschäf­tig­ten – und ver­sucht die Fra­ge zu unter­drücken: Für wen soll­te er eigent­lich da sein? Das »Natur­ge­setz« des Kapi­ta­lis­mus zeich­net sich deut­lich ab: Die herr­schen­de Klas­se häuft Macht und Reich­tum ohne Rück­sicht auf Ver­lu­ste an, wird dabei aber blind für gefähr­li­che Fol­gen für das System, also die selbst ver­ur­sach­ten Kri­sen, Kata­stro­phen und Krie­ge. Unter denen hat immer die Klas­se der Besitz­lo­sen zu leiden.

Fazit: Die syste­ma­ti­sche Benach­tei­li­gung und die Unge­rech­tig­keit bela­sten die Men­schen, zer­rei­ßen die Gesell­schaft und för­dern Ent­wick­lun­gen zu Ver­ro­hung und auto­ri­tä­rem Natio­nal­ra­di­ka­lis­mus. Hoff­nung kommt vor allem von jenen, die ihre Wut nicht in Resi­gna­ti­on oder rech­te Res­sen­ti­ments umwan­deln, son­dern aktiv wer­den für ihre Men­schen­rech­te, wonach das »Ide­al vom frei­en Men­schen, der frei von Furcht und Not lebt, nur ver­wirk­licht wer­den kann, wenn Ver­hält­nis­se geschaf­fen wer­den, in denen jeder sei­ne wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Rech­te eben­so wie sei­ne bür­ger­li­chen und poli­ti­schen Rech­te genie­ßen kann«, wie es in der Prä­am­bel der wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Men­schen­rech­te heißt. Sie ver­trau­en nicht dar­auf, dass der »Staat des Kapi­tals« (Johan­nes Agno­li) sich durch Argu­men­te über­zeu­gen lässt und Poli­tik für die brei­te Bevöl­ke­rung macht.

Armut und Ungleich­heit las­sen sich nicht kari­ta­tiv, son­dern nur poli­tisch lösen. War­um nicht kon­kre­te Ergeb­nis­se ver­lan­gen und Fri­sten fest­le­gen? Etwa so:

Das Maß für Ungleich­heit, der Gini-Koef­fi­zi­ent, ist bis zum Jahr 2030 auf die Hälf­te zu senken!

Der Pro­zent­satz armer Kin­der ist in der näch­sten Legis­la­tur­pe­ri­ode zu hal­bie­ren, eben­so die Quo­te der Altersarmut.

Eine regie­rungs­un­ab­hän­gi­ge Kom­mis­si­on sorgt dafür, dass der Arti­kel 3 der UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on umge­setzt wird: Alle Geset­ze und Ver­ord­nun­gen müs­sen danach das Wohl der Kin­der vor­ran­gig berück­sich­ti­gen (dann fal­len die Hartz-Geset­ze automatisch).

Sozi­al­ver­bän­de bekom­men ein Kla­ge­recht, um die rea­le Gel­tung der Grund­rech­te für alle Men­schen durch­zu­set­zen, unab­hän­gig von ihrer sozia­len Herkunft.

Unab­hän­gi­ge Gut­ach­ter ent­schei­den über Ent­schä­di­gun­gen für die Gene­ra­tio­nen von Kin­dern, die auf Grund ihrer sozia­len Her­kunft syste­ma­tisch benach­tei­ligt wur­den und ihre Grund­rech­te auf Gesund­heit, Bil­dung und Ent­fal­tung ihrer Per­sön­lich­keit nicht rea­li­sie­ren konnten.

Das ist unrea­li­stisch? Kon­zer­nen wird doch das Recht zuge­bil­ligt, Staa­ten auf ent­gan­ge­ne Gewin­ne zu ver­kla­gen – auf Kosten der Bevöl­ke­rung! Also: System Chan­ge, not Sym­ptom Change.

Träum wei­ter, wer­den vie­le sagen. Ja, träu­men wir wei­ter von der Ver­wirk­li­chung der Grund- und Men­schen­rech­te und der UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on, nicht nur in ande­ren Welt­ge­gen­den, in denen sie Deutsch­land heuch­le­risch pro­pa­giert – und tun wir was dafür. Poor Lives Matter!